Konservatismus versus Kapitalismus

08.07.2022

In meiner Arbeit bei Liberty Rising treffe ich täglich Libertäre. Teils rede ich mit einem Dutzend oder mehr Eigentumsfreunden am Tag, und oft ist eine der Selbstbeschreibungen, die sie für sich wählen: „konservativ“. Nicht nur das, auch ef ist ja ein Magazin, dass sehr konsequent konservative Eigentumsfreunde repräsentiert, und mit der „Krautzone“ gibt es inzwischen ein weiteres Magazin, das diesen Brückenschlag noch weit radikaler unter dem Label „reaktionär“ vollzieht.

Ich finde diese Verbindung widersprüchlich, denn ich kann nicht erkennen, wo der Kapitalismus, also die völlige individuelle Freiheit des Menschen und des Tausches, dem Konservativen dient. Ganz im Gegenteil – mir scheint vielmehr, dass nichts so leidenschaftlich das Alte, das Traditionelle, das Überkommene einreißt wie der Kapitalismus und seine Tugenden. Nicht umsonst sprach Schumpeter – man mag sonst ökonomisch von ihm halten, was man will – von der schöpferischen Zerstörung, mit der der Kapitalismus die Welt beständig aufs Neue formt und unser Leben umkrempelt.

Und der Kapitalismus durchmischt dabei eben nicht nur die Produkte, die bunt verpackt im Supermarkt auf uns warten. Er wirft zum Beispiel auch Geschlechterrollen um. Oder, um es frei mit Karl Popper zu sagen: Nicht primär die Suffragetten haben die Frauenemanzipation herbeigebombt, die eigentliche Befreiung der Frau aus der häuslichen Tätigkeit geschah durch bessere Herde, Reinigungsmittel, Waschmaschinen, Staubsauger, Tiefkühlkost und all die anderen kapitalistischen Wunder, die den Vollzeitjob Haushalt in eine Teilzeittätigkeit verwandelten. Und wenn wir ehrlich sind: heute sogar noch in weniger als eine Teilzeittätigkeit, wenn die eigenen Ansprüche nicht allzu hoch sind.

Ein befreiter Kapitalismus würde unsere Städte durchpflügen wie ein unbestelltes Feld – der staatliche Denkmalschutz ist ein maßgeblicher Faktor, der historische Innenstädte erhält, wodurch die Mieten explodieren. Gäbe es ihn nicht, wären unsere Innenstädte wohl längst – zumindest in den Großstädten – den hellen funkelnden Palästen aus Glas und Beton gewichen und nachts mit LED-Lichtern in allen Farben des Regenbogens geflutet. Schauen Sie nur, wie die unsichtbare Hand des Marktes ganz sichtbar aus der kümmerlichen niedrigen Bebauung in Manhattan das himmelsstrebende Juwel New York gemacht hat, vor dessen Größe sich die halbe Welt ehrfürchtig verneigt.

Wie sähe es mit unserer Kultur aus, würde die urlibertäre Forderung nach offenen Grenzen erfüllt (selbst nach völliger Abschaffung des Sozialstaates) – wie viele Menschen würden nach Deutschland strömen, auf der Suche nach Glück? So war es auch in der freiheitlichen Hochphase der USA, dem kulturellen „Melting Pot“. Schrieb nicht Emma Lazarus in ihrem berühmten und wunderschönen Gedicht an die Freiheitsstatue: „Behalte alte Welt, deinen geschichtsträchtigen Pomp. Gib mir deine müden, deine armen, deine gebeugten Massen, die sich nach der Freiheit sehnen“?

Die Natur, die Wälder, die Äcker, die Bergbäche und Alpengipfel bedeuten dem Kapitalismus nichts über ihren Nutzwert hinaus – er kennt keine irrationale Sentimentalität, wie sie konservative Wanderfreunde, alte Jäger oder ökobewegte Freitagskinder kennen. Wenn es sich lohnt, planiert er sie, bebaut sie und gibt so Menschen Eigenheime mit grandiosem Ausblick. Nie hätte er derart große Naturschutzgebiete wie in Deutschland geduldet, nie hätte er eine solche Verschwendung von Nutzfläche, von potenziellem menschlichem Wohlstand zugelassen. 

Auch die Nation bedeutet ihm nichts, das Volk nicht, die Rasse nicht, die Klasse nicht. Er teilt die Welt nicht nach Hautfarben oder Bekenntnissen ein, sondern nach der einfachen Regel: Produzenten oder Nicht-Produzenten. Grenzen behindern ihn nur in seinem Streben, die ganze Welt zu umfassen und alle Menschen in einem großen Band des Handels Wert gegen Wert miteinander zu verbinden – seine Verbündeten sind die Freihändler, die Globalisten im wahren Sinne. Er lacht über das Selbstlose und Aufopferungsvolle, denn seine Interaktion ist nicht die milde Gabe, sondern der gerechte Tausch.

Fast nichts ist dem Kapitalismus heilig – nicht die Religion, deren Marienbilder er in China produzieren und in Lateinamerika verramschen lässt, nicht die sogenannten guten Sitten, denen er seine bestens laufenden Porno-Portale für jedermann entgegenstellt. Nicht die Natürlichkeit, der er mit Kosmetik und Biotechnologie, mit Gentechnik und Pille begegnet. Nein, der Kapitalismus kennt nur einen Heiligen: den Menschen. Er dient keinem Gott oder höheren Wesen. Er belohnt Rationalität, Naturbeherrschung, leidenschaftlichen Veränderungswillen. Seine Gesegneten sind nicht die Heiligen, die Märtyrer oder die Schwachen, es sind die starken, intelligenten oder fleißigen Produzenten.

Wegen all dem liebe ich den Kapitalismus und kämpfe dafür, dass er erneut und endgültig siegt. Dafür, dass er die ganze Welt verwandelt, auf das es nie wieder Nacht werde und das Glück der Menschen nie aufhöre, sich zu steigern. Dafür, dass der Fortschritt nie wieder stehen bleibe und die produktive Leidenschaft des Menschen nie wieder ruhe.

Aber was ich nicht verstehe – warum sollte man als Konservativer für ihn kämpfen?