Buchbesprechung: Mitteleuropa und Multipolarität

14.07.2023

In seinem neuesten Buch “Mitteleuropa und Multipolarität” (Antaios, 2023) bringt der Publizist Dimitrios Kisoudis (*1981) einen scheinbar alten, den Terminus “Mitteleuropa”, und einen scheinbar neuen Begriff, den der Multipolarität, zusammen, um sie gemeinsam mit dem deutschen Sonderweg zu versöhnen. Deutschland soll – geknechtet von den USA (siehe Nordstream 2) und durch das polnische Intermarium vom Osten abgeschnitten – sich endlich wieder selbst eine politische Mission geben und Mitteleuropa als Alternative zur Westbindung, EU und NATO dem Rest Europas anbieten. Kann das gelingen oder erwartet uns hier eine Anleitung zum geopolitischen Harakiri im Zwei-Fronten-Krieg?

Helden gegen Händler: Ein Parforceritt durch die deutsche Geistesgeschichte

Auf den knapp über 80 Seiten kleinformatigen Seiten des Kaplakenbandes seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung liefert Kisoudis einen Parforceritt durch die deutsche Ideengeschichte der Moderne. Dabei identifiziert der Carl-Schmitt-Schüler Deutschland im Weltbürgerkrieg zwischen Land- und Seemächten nach dem britischen Admiral Mackinder unser Vaterland mit der Landmacht, wohingegen er die angelsächsischen Seemächte als Parteigänger der Seemacht sieht. Dies lasse sich auch an der unterschiedlichen Nationswerdung nachvollziehen: Während Deutschland durch die Macht des zweiten Standes, der Krieger, geformt worden sei, so wurden die Engländer durch die Macht des vom Händler- und Krämergeist befallenen Bürgertum ins Leben gerufen. Frei nach Werner Sombart haben wir es hier also auch mit einem Duell zwischen Händlern und Helden zu tun.

Friedrich List als Ahnenherr der Großraumordnung

Den Anfang bei in seiner geistigen Ahnenreihe eines (geo-)politischen Sonderweges für Deutschland lässt er Friedrich List (1789 – 1846) machen, dem er heute nicht die Rolle eines Vordenkers des deutschen Nationalstaates oder der Europäischen Union zuweisen will – hier merkt er treffend an, dass solche Rollen immer an die jeweilige Zeit gebunden sind – sondern als den Architekten des Großraumes. Während List Deutschland gegen die universalistische Großmacht England und deren Imperialismus mit Zollen schützen wollte, muss heute Deutschland Europa eine Alternative zur transatlantisch ferngesteuerten EU anbieten, damit es sich gegen die ebenfalls universalistischen USA behaupten kann.

Mitteleuropa als Lösung für Deutschlands Mittellage

Diese (mittel-)europäische Orientierung sei nicht zuletzt deswegen notwendig, da Deutschland durch seine Mittellage über keine natürlichen Grenzen verfüge. In Mitteleuropa sieht Kisoudis  die geopolitische Gestalt des deutschen Sonderweges, der sich sowohl der geopolitischen Westbindung, als auch der liberalistischen Umerziehung zu widersetzen kann.

Im Laufe seiner Schrift zeigt der Autor jedoch auf, dass auch die Architekten des deutschen Sonderweges oft vom Weg der Helden abwichen und versuchten jenen der Händler zu gehen: Auf die Bismarckära folgten in Deutschland imperialistische Ideen, wie etwa im Deutschen Flottenverein, indem nun auch das deutsche Bürgertum für eine große Flotte in Form einer großen Kriegsmarine warb, die sich die Welt unterwirft. Die Ursachen für die „deutsche Katastrophe“ sieht zwischen diesen imperialistischen Ideen liegen. Der 1891 gegründete Allgemeine Deutsche Verband (Später Alldeutscher Verband) dient ihm hierbei als Beispiel für den Konflikt zwischen Völkerverständigung und Chauvinismus.

Völkerverständigung gegen Chauvinismus

Während etwa Ernst Hasse für eine Gleichberechtigung der Weltmächte eintrat und sich für einen mitteleuropäischen Zollverein als Träger deutscher Weltmacht aussprach, trat der 1908 an die Spitze des Alldeutschen Verbandes getretene Heinrich Claß für eine scharf sozialdarwinistisch-und rassentheoretisch geprägte Politik ein. Kisoudis skizziert den Widerstreit und die Überschneidungen der beiden Ansätze, beispielsweise auch anhand der Kriegszieldebatte im Ersten Weltkrieg. Während erstere Strömung in den Plänen zur Berlin-Bagdadbahn und den Forderungen nach der Gründung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsverbandes gipfelten, wie etwa beim bekanntesten Vertreter der Mitteleuropaidee Friedrich Naumann, sieht letztere Strömung Mitteleuropa nur als Zwischenschritt, um im imperialistischen Maßstab nach Osteuropa auszugreifen, wie die deutsche Führung es im Ersten Weltkrieg im kleinen mit dem Gebiet Ober Ost bzw. im Zweiten Weltkrieg im Zuge des Generalplan Ost tat. An diesem Punkt stellt sich Kisoudis auf die Seite der Mitteleuropapolitik im Sinne der Völkerverständigung und gegen den Chauvinismus. Wenn Deutschland seinen Sonderweg wieder aufnehmen wolle, müsse es Europa eine Alternative in der Form von Mitteleuropa zeigen, im Sinne eines Bindegliedes nach Osten, auch um die polnische Bedrohung durch das Intermarium überwinden zu können. Der gegenwärtige Krieg um die Ukraine beweise, dass eine enge Westbindung im Angesichts des wirtschaftlichen Aufstieg Asiens Deutschland und Europa nur auf der Verliererseite zurücklasse.

Mitteleuropa und Multipolarität – ein gelungener Einstieg in die Debatte um Deutschlands Zukunft

Schließlich bemerkt Kisoudis treffend, dass zur Multipolarität auch eine andere Geisteshaltung notwendig ist, die sich an traditionellen Vorstellungen wie Ehre, Glaube und Zusammenhalt orientiert – Werte die, so der Publizist, heute in Ungarn und der Türkei überzeugender gelebt werden als im Regenbogen-Westen. Sein Buch ist ein gelungener Einstieg in die Thematik der Multipolarität und der Möglichkeit des deutschen Sonderwegs. Wer sich in dieser Theamtik vertiefen will, dem seien die Werke „Geopolitische Zeitwende“ von DS-Autor Sascha Roßmüller und „Konflikte der Zukunft“ von Alexander Dugin ans Herz gelegt.

Mitteleuropa und Multipolarität