"Jeder Westler ist ein Rassist"
"Jeder Westler ist ein Rassist"
SPIEGEL: Alexander Geljewitsch, man sieht Sie dieser Tage auf Kundgebungen und im russischen Fernsehen, und überall warnen Sie vor einer „nationalistischen faschisti- schen Diktatur“ in der Ukraine. Welche Belege haben Sie dafür, dass in Kiew der Faschismus sein Haupt erhebt?
Dugin: Wir haben es dort mit einer radikalen Form von Rassismus und Intoleranz zu tun, mit Chauvinismus. Nicht nur die Freiheits-Partei, nicht nur der Rechte Sektor, nein, auch die sogenannten gemäßigten und liberalen ukrainischen Politiker reden von der Dominanz der westukrainischen Identität. Eine Russophobie rassistischer Prägung hat von Anfang die Aktionen des Maidan durchdrungen, unter dem Motto: „Wer jetzt nicht hüpft, ist ein Moskal“.
SPIEGEL: Im Ukrainischen ist „Moskal“ ein abfälliger Begriff für „Russe“.
Dugin: Das klingt wie: „Wer jetzt nicht die Hand hebt, ist ein Zigeuner.“ Hätte das jemand in Deutschland gesagt, wäre die entsprechende Partei sofort verboten worden. Oder „Moskal an den Ast“ – das heißt: Tötet den Russen. Ich kann mir kein Land in der Europäischen Union vorstellen, in dem die Leute auf die Straße gehen und rufen dürften: „Bringt die Franzosen, bringt die Belgier um!“ Das ist Faschismus. Amerika und Europa nutzen ihn für ihre geopolitischen Ziele, dieser Faschismus ist in Kiew seit den Neunziger Jahren gereift, mithilfe westlicher Stiftungen. Der Begriff Faschismus wird bei Ihnen in Westeuropa übrigens aufgeweicht: Wer für Amerika ist, ist ein Guter – sogar wenn er Salafist, Wahhabit oder von al-Qaida ist. Wer bei Ihnen Amerika ablehnt, gilt als Faschist.
SPIEGEL: Das ist vielleicht jetzt ein etwas großzügiger Umgang mit dem Begriff Faschismus. Außerdem: Ich habe in Kiew zwar Russophobie erlebt, aber keinen Faschismus.
Dugin: Ja, klar, weil Sie als westlicher Journalist dazu erzogen sind, nur das zu sehen, was Sie sehen sollen. Das ist ein kultureller Code, eine Projektion. Sie könnten gar nicht in Ihrem Verlag arbeiten, wenn Sie mir gegenüber behaupten würden, in Kiew gebe es Faschismus.
SPIEGEL: Sie haben öffentlich erklärt, man solle diese Ukrainer „töten, töten, töten“. Ihre Äußerung war auch in Russland sehr umstritten.
Dugin: Halt, halt. Nachdem die Leute vom Rechten Sektor und der Nationalgarde im Gewerkschaftshaus von Odessa Menschen verbrannt hatten, sagte ich: Leute, die sol che ungeheuerlichen Verbrechen begehen, muss man töten, töten, töten. Es ging nur um diejenigen, die solche Verbrechen begehen!
SPIEGEL: Die Vorgänge am 2. Mai in Odessa sind nicht so eindeutig, wie Sie behaupten. Sie begannen mit Angriffen pro-russischer Aktivisten auf Ukrainer.
Dugin: Gab es Leichen oder nicht? Nein? Für Sie gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder es gibt gar keine Leichen – oder aber wir Russen waren es, die diese Leute umgebracht haben! Ich bin völlig Ihrer Meinung: Wir haben die Leute getötet und die Leichen dort in Odessa im Gewerkschaftshaus deponiert. Man muss uns Rus- sen umbringen!
SPIEGEL: Es gab mindestens 48 Tote, das bestreitet niemand. Aber wie es dazu kam, ist immer noch ungeklärt.
Dugin: Ach ja? Ja, natürlich, wir waren es! Sie haben Recht!
SPIEGEL: Ich hatte gefragt, warum Sie den Tod der Ukrainer gefordert haben.
Dugin: Ja, ja, ich habe vorgeschlagen, alle Ukrainer umzubringen. Sie müssen das so sehen, schließlich arbeiten Sie bei einem Magazin, das auf der richtigen Seite steht.
SPIEGEL: Sind die Ukrainer tatsächlich nur Bauern in einem geopolitischen Schachspiel, im großen „Krieg der Kontinente“, von dem Sie gern sprechen?
Dugin: Nein, alles Prachtkerle, gute Menschen. Sie haben einen freien Staat aufgebaut, die Demokratie gefestigt und ihre territoriale Integrität, sie haben sich des korrupten Herrn Janukowitsch entledigt und demokratische Führer installiert. Sie wollten in die EU, und wir verdammten Russen haben sie daran gehindert. Wir sind die Schlechten, sie die Guten.
SPIEGEL: Mit Ironie und Sarkasmus kommen wir jetzt nicht richtig weiter.
Dugin: Ich kann nicht anders. Zwischen uns kommt kein Gespräch zustande.
SPIEGEL: In Ordnung. Versuchen wir es anders: In Ihren Werken sprechen Sie davon, dass nach dem Ende der Sowjetunion die „Epoche der Geopolitik“ angebrochen sei. Die Grenze zwischen den Kontinenten – Sie meinen die Grenze zwischen dem Westen und dem Osten, dem, was Sie „Eurasien“ nennen, würde quer durch Länder verlaufen. Eine kulturelle Grenze also? Dugin: Ja, eine Grenze zwischen Zivilisa- tionen, zwischen verschiedenen Kulturen.
SPIEGEL: Und diese Grenze durchschneidet auch die Ukraine?
Dugin: Warten Sie, das ist ein ernstes Thema. Gibt es eine Zivilisation oder mehrere? Gibt es Werte, die für die gesamte Menschheit charakteristisch sind?
SPIEGEL: Es gibt verschiedene Zivilisationen und Kulturen, aber auch Werte, die allen gemeinsam sein sollten.
Dugin: Also doch nur eine universale Zivilisation? Das sehe ich anders, und hier ist auch unser Dissens. Ich berufe mich auf Kulturtheoretiker wie Oswald Spengler, Arnold Toynbee und Nikolai Danilewski.
SPIEGEL: Danilewsiki war einer der führen- den Panslawisten des 19. Jahrhunderts. Dugin: Unterschiedliche Gesellschaften ha- ben unterschiedliche Werte. Es gibt keine universellen Werte. Die, die dafür gehal ten werden, sind eine Projektion westlicher Werte. Die westliche Zivilisation ist eine rassistische, ethnozentrische Zivilisation. Jeder Westler ist ein Rassist – kein biologischer, wie Hitler, aber kulturell. Deswegen denkt er, es gebe nur eine Zivilisation – oder Barbarei. Und diese Zivilisation beruhe auf Demokratie, Fortschritt, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft und individuelle Identität. Die Barbarei aber negiere dies alles, aus irgendwelchen religiösen Gründen. So denken die Westler, deswegen sind sie kulturelle Rassisten.
SPIEGEL: Das ist absurd.
Dugin: Nochmals: Es gibt nicht die eine Zivilisation, sondern viele, unterschiedliche Formen von Zivilisation. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie respektieren, dass ich eine andere Sprache spreche, und dass wir jetzt versuchen, möglichst viele gemeinsame Begriffe zu finden. Oder aber Sie glauben, dass Sie im Besitz der absolu- ten Wahrheit sind – was auch heißt, dass wir Russen einfach nicht wissen, was Menschenrechte, Liberalismus, Freiheit sind, und dass Sie sich im Recht fühlen, die Menschenrechte in Afrika, Russland und China zu verteidigen.
SPIEGEL: Andererseits hört man aus Russland , die östliche Zivilisation sei der westlichen überlegen und Europa tief in Dekadenz versunken.
Dugin: Habe ich nie gesagt. Ich bin nur der Meinung, dass die Zivilisationen des Westens und des Ostens ganz unterschiedlich sind. Die östliche ist insofern überlegen, weil sie sich gegen den Rassismus der westlichen wehrt. Der Westler kommt her und sagt: Fortschritt, Technologie und Sicherheit sind auch Eure unabdingbaren natür- lichen Rechte.
SPIEGEL: Das bezweifeln Sie?
Dugin: Sie nicht? Europa weiß offenbar alles, es redet mit anderen wie mit Idioten.
SPIEGEL: Wir sind doch gerade dabei, Verständnis füreinander zu suchen. Die orthodoxe Kirche in Russland spricht von einer Nation der „Bezwinger“. Was soll man darunter verstehen?
Dugin: Ich kann Ihnen nicht sagen, wie die Kirche das gemeint hat.
SPIEGEL: Was werfen Sie dem dekadenten Westen vor?
Dugin: Dass er uns seine Kriterien aufzwingen will. Bei Ihnen gibt es Gay-Paraden – okay, dann marschiert. Dass es bei uns keine gibt, haltet Ihr für eine Verletzung der Menschenrechte. Und wir sagen daraufhin: Haut ab! Oder Ihr wollt dem Islam erklären, was Feminismus ist und wer Femen sind und warum Frauen mit Männern gleichzustellen sind. Das ist Kolonisation. Ich bin ein orthodoxer Christ, Sie nicht. Ich akzeptiere Sie, aber Sie mich nicht.
SPIEGEL: Wie kommen Sie darauf, dass ich Sie nicht akzeptiere?
Dugin: Wenn Sie zu einem Vertreter einer anderen Kultur kommen, sollten Sie nach dessen Ansichten fragen. Und keine falschen Behauptungen wie im Fall Odessa aufstellen.
SPIEGEL: Ich habe eine Frage gestellt. Mich würde interessieren, welche Wurzeln die patriotische, fast isolationistische Stimmung in Russland hat, und warum es so wenig Debatten über den Kurs der Staatsführung gibt? Kann es sein, dass Sie das Recht des Kollektivs höher bewerten als die individuellen Menschenrechte, auf die der Westen pocht?
Dugin: Im Westen stehen die Menschenrechte über denen des Kollektivs, in der islamischen Welt steht die Religion höher als das Recht des Einzelnen, in Russland sind es die Rechte der Gemeinschaft, kollektive Rechte. Bei allem Postmodernismus, bei aller Toleranz: Sie im Westen kommen nicht mit dem Problem des Anderen zu- recht. Für Sie ist das Andere immer etwas Negatives – oder dasselbe wie Sie. Sie finden einfach nicht den Schlüssel zum philosophischen Problem des Anderen (sagt es auf Deutsch). Sie versuchen uns zu belehren, wie dieses Problem zu lösen ist, ohne dass Sie es selbst gelöst haben. Das war schon immer so: in der Kolonialzeit, in der Zeit der großen geografischen Entdeckungen, in der Epoche des europäischen Nationalismus, der Zeit des Westfälischen Friedens, in der Epoche der englischen Kolonialeroberungen, unter Hitler und in der Zeit des Liberalismus. Der Ethnozentrismus der westeuropäischen Gesellschaft ist eine Konstante. Edmund Hus- serl ...
SPIEGEL: ....einer der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts...
Dugin: ... schrieb über die „europäische Menschheit“ (sagt es auf Deutsch). Wer so spricht, schaffst selbst die Basis für den Ethnozentrismus, weil für ihn das „Europäische“ und das „Menschliche“ ein und dasselbe sind. Europa als Schicksal der Menschheit. Da muss man sich nicht über die Konzentrationslager wundern. Ich lie- be Edmund Husserl, er ist mein Lieblings-Philosoph, ein Humanist. Aber auch ein Rassist. Alle europäischen Philosophen sind Rassisten. Nein, halt, es gab Ausnahmen – den Ethnologen Leo Frobenius beispielsweise und genau genommen auch den Kulturphilosophen Johann Gottfried Herder.
SPIEGEL: Der Romantiker Herder gilt mit seiner Abkehr vom Universalismus der Aufklärung als einer der Vordenker konservativer, national geprägter Kulturtheorie.
Dugin: Ich liebe die Wurzeln deutscher Kultur. Aber es gibt sie nicht mehr. Das heutige Deutschland ist eine Art Gegen-Deutschland.
SPIEGEL: Wirklich?
Dugin: Sie lesen Ihre eigenen Autoren nicht mehr, Sie verstehen sie nicht mehr, und Sie diskutieren nicht mehr über sie. Ich bin oft in Deutschland, aber wenn ich mir anschaue, was bei Ihnen in den Regalen der Buchhandlungen steht, dann hat die deutsche Kultur keine Zukunft mehr. Sie leben in einer degradierenden Zivilisation. Wo ist der große deutsche Geist geblieben? Wo die Höhen der französischen Philosophie? Wo die Tiefe der italienischen Kunst? Was wir heute sehen, ruft Ekel hervor. Ich liebe Europa sehr, ich schätze seine kulturelle Tradition. Aber es gibt sie nicht mehr.
SPIEGEL: Die Kritik westlicher Werte ist in Russland nichts Neues. Dostojewski sah im Slawentum eine neue Weltidee. Auch er fand den Westen dekadent.
Dugin: Dostojewski, Konstantin Leontjew, besonders aber Nikolai Daniljewski und die Eurasier haben ganz richtig gesagt, dass man den Einfluss der rassistischen, westlichen Zivilisation begrenzen muss. Sie sagten, dass wir eigene Werte haben, einen eigenen Weg, einen besseren. Für Dosto- jewski und die Slawophilen ist Russland eine besondere Form Zivilisation – keine europäische, keine asiatische, sondern eine orthodoxe. Mit eigenen Vorstellungen über Moral, Ethik, Religion, Macht und Politik.
SPIEGEL: Schon Daniljewski sprach vor 150 Jahren vom Kampf der Kulturen. Warum halten die Slawophilen eine Konfrontation mit dem Westen für unvermeidlich? Dugin: Der Konflikt der Zivilisationen ist unausweichlich.
SPIEGEL: Der Philosoph Iwan Kirejewski, schrieb im 19. Jahrhundert: Alles, was einer vollständigen Entfaltung der Orthodoxie entgegensteht, behindert auch die Entfaltung des russischen Volkes sowie dessen Wohlergehen; es verletzt die Seele Russlands, es zerstört seine moralische, gesellschaftliche und politische Gesundheit. Würden Sie das heute noch unterschreiben?
Dugin: Ja.
SPIEGEL: Führt das nicht geradewegs zur In- toleranz gegenüber anderen Ideen – zu jener Intoleranz, die Sie dem Westen vorwerfen?
Dugin: Nein. Der orthodoxe Geist ist nicht exklusiv. Im Unterschied zum Katholizismus hat die Orthodoxie eine gewisse Flexibilität. Wir Russen sind keine Nationali- sten, wir waren nie eine Nation. Wenn wir von den „Unsrigen“ sprechen, dann ist das nicht ethnisch gemeint. Auch der Tschetschene gehört zu uns oder der Usbeke. Wir haben den türkischen oder mongolischen Völkern gesagt: Ihr seid jetzt Teil der orthodoxen Kultur, aber wir werden euch nicht verfolgen. Ihr werdet eure Moscheen haben, ihr werdet beten können. Wenn wir von einem orthodoxen Volksgeist sprechen, heißt das nicht, dass wir anderen Kulturen den Krieg erklären.
SPIEGEL: Orthodoxe Aktivisten haben dieser Tage in Moskau ein Konzert des amerikanischen Rock-Musikers Marilyn Manson verhindert.
Dugin: Wozu brauchen wir ihn hier?
SPIEGEL: Er hat auch in Russland Fans. Dugin: Sollen sie Geld sammeln und dorthin fahren, wo Manson lebt.
SPIEGEL: Es waren Russen, die ihn eingeladen haben.
Dugin: Und damit muss man sich auseinandersetzen. Aber das ist nur der Anfang einer kulturellen Konfrontation. Die Russen spüren, dass ihre Identität bedroht wird, und dagegen wehren sie sich. Es ist gut so, dass sie ihre Meinung gesagt haben.
SPIEGEL: Es gab eine Bombendrohung, die Polizei hat das Konzert abgesagt. Um die Hegemonie des Westens zu brechen, gibt es in Russland Aufrufe, Ketten wie McDonalds zu boykottieren. Tatsächlich aber sieht man überall in Russland westliche Smartphones, westliche Fernseher, westliche Autos. Duma-Abgeordnete schicken ihre Kinder auf westliche Universitäten, verstecken ihr Geld auf westlichen Banken kaufen sich im Westen sichere Immobilien und machen Urlaub an der Cote d’Azur. Wie passt das zusammen?
Dugin: Das passt schlecht zusammen, das ist inkonsequent. Russland will sich vom Westen lösen, aber die politische Elite ist eng mit dem Westen verbandelt. Ich nenne das Archeomoderne. Die Gesellschaft ist archaisch, die Elite aber modernisiert. Die Elite will die Massen modernisieren, sie verwestlichen, aber die Massen wollen die Eliten russifizieren. Das ist ein Kampf, der im 19. Jahrhundert begann. Die Frage ist bis heute ungeklärt, es gibt lediglich einen schmerzhaften Kompromiss. Unsere Gesellschaft will kein McDonalds und kein IPhone. Ich bin bereit, aufs IPhone, auf McDonalds und auch aufs Fernsehen zu verzichten.
SPIEGEL: Der Drang zum Materiellen stößt Sie ab?
Dugin: Technischer Fortschritt geht einher mit geistiger Regression. Ich bin für geistigen Fortschritt.
SPIEGEL: Sie haben Russland mit einem Trinker verglichen, der sein Hab und Gut in der Kneipe verspielt hat: Familie, Kinder, Haus und Boden. Wieder nüchtern versucht er jetzt, das Verspielte zurückzuholen. Wie soll er das tun? So wie im Fall der Krim?
Dugin: Wir Russen haben uns in den Neunziger Jahren selbst verloren, unseren unabhängigen Platz in der Welt: zuerst der Zerfall der Sowjetunion, dann der totale Einfluss westlicher Kultur. Es geht mir nicht um territoriale Veränderungen, aber die Krim ist Teil unserer Geschichte, wir müssen unsere russischen Wurzeln wiederfinden und damit unser historisches Selbstverständnis.
SPIEGEL: Auf den Kundgebungen fordern Sie Putin dazu auf, auch in der Ostukraine Stärke zu zeigen: „Ostukraine oder Tod“. Meinen Sie das wirklich ernst?
Dugin: Absolut ernst. Wenn wir die Ostukraine verlieren, wird Kiew die Krim an- greifen, und wir werden in einen Krieg hineingezogen. Wenn wir die Krim aufgeben, wird es Proteste in Russland geben, die zum Sturz Putins führen, und dann haben wir unseren eigenen Euromaidan. Ich kenne Putin nicht, ich habe keinen Einfluss auf ihn. Ich wende mich mit meinem Appell sozusagen ins Nichts, aber es ist meine bürgerliche Pflicht. Aber Putin hört mich nicht.
SPIEGEL: Wenn Putin sagt, Russland müsse nicht nur überall die ethnischen Russen schützen, sondern alle, die sich der russischen Welt zugehörig fühlen, dann ist er doch ganz nah bei Ihnen. Auch er stemmt sich gegen eine amerikanische Hegemonie. Andererseits sagen Sie, Putin glaube an keine Idee. Kommt er dem Westen immer noch zu sehr entgegen?
Dugin: Ja, natürlich. Er ist eine gespaltene Persönlichkeit. Es gibt den lunaren und den solaren Putin, wie ich ihn nenne. Der solare Putin ist der Putin, wie ich ihn sehen möchte. Der lunare aber betrachtet die Welt aus der Perspektive von Verträgen, Kooperationen, Gaslieferungen. Das ist der Pragmatiker. Zwischen beiden gibt es einen Konflikt. Putin ist eine zutiefst gespaltene Person: zuerst die Annexion der Krim – und danach Schritt für Schritt in die Gegenrichtung. Er hat beim Geheimdienst gearbeitet – vielleicht sagt er des- wegen immer genau das Gegenteil von dem, was er meint.
SPIEGEL: Sie unterscheiden zwischen der Fünften und der Sechsten Kolonne, die in Russland selbst gegen Russland arbeiten und daher bekämpft werden müssen. Mit der Fünften meinen Sie die Demonstranten, die nach den teilweise gefälschten Duma-Wahlen 2011 zu Zehntausenden auf den Bolotnaja-Platz gingen. Sind das alles Gegner?
Dugin: Alles Feinde Russlands.
SPIEGEL: Alles bezahlte Söldner?
Dugin: Bezahlt werden nur die Führer. Die Fünfte Kolonne – das sind jene Liberalen, die Russland als Teil der westlichen Welt sehen, sie arbeiten gegen Putin. Die Sechste Kolonne aber hat sich innerhalb des russischen Machtzirkels eingenistet, sie ar- beitet und lebt mit Putin zusammen. Der einzige Unterschied: Die Fünfte Kolonne ist gegen Putin, die Sechste für ihn. Aber alle sind sie liberale Westler.
SPIEGEL: Logisch, dass Sie die Sechste Kolonne für gefährlicher halten.
Dugin: Sie ist gefährlicher, weil sie weniger sichtbar ist. Und weil ihre Vertreter sagen, sie handelten im Sinne Putins.
SPIEGEL: Wie soll man Ihrer Meinung nach mit der liberalen Opposition umgehen?
Dugin: Es gibt zwei Auffassungen von Demokratie - als Herrschaft der Mehrheit und wie die Macht von Minderheiten. Klassische Verständnis, das ich halte für richrug, ist die Macht der Mehrheit. Aber in liberal postmodernen Westen, die Demokratie heute gilt als die Macht von Minderheiten, die gegen die Mehrheit gerichtet ist. Auffassung von Demokratie als Herrschaft der Mehrheit ist als Versuch gesehen, freiwillig zu Populismus, Sozialismus oder Faschismus übergehen. Daher ist die Aufgabe der herrschenden Minderheiten kämpfen mit den Mehrheit. Ich finde es perverse Logik.
SPIEGEL: Sie sagen: „Es gibt keine Kritiker des Putinschen Kurses mehr. Und wenn es sie gibt, dann sind das psychisch Kranke, und man muss sie ärztlicher Überwachung übergeben. Putin ist alles, Putin ist uner- setzbar.“ Ist das wirklich von Ihnen? Dugin: Ja.
SPIEGEL: Psychisch krank?
Dugin: Diejenigen, die Putin angreifen, greifen die Mehrheit an. Das ist psychisch anor- mal, Ein Abweichen von der Norm. Muss man Normabweichungen dulden? Man muss. Muss man Anormalität zur Norm machen? Nein. Deswegen sind Leute, die Putin nicht unterstützen, psychisch nicht normal. Aber psychisch Kranke haben ein Recht auf Heilung, auf Unterstützung.
SPIEGEL: Wie stellen Sie sich dieses Eurasien vor, das Sie als Gegenkonstrukt zur west- lichen Demokratie propagieren?
Dugin: Eurasien hat einen globalen Charakter, es ist ein Synonym für Multipolarität. Ich habe Anhänger selbst in Brasilien oder in China – überall dort, wo man gegen die unipolare amerikanische Dominanz ist. In diesem Sinne sind selbst diese Leute Eurasier. Zum engeren Begriff: Eurasien – das sind Russland und seine Partner. Die Türkei, Iran, China, Indien. Der postsowjetische Raum, der sogar die Mongolei einschließt Und einen Teil Osteuropas – Bulgarien oder Serbien. Wie genau die eurasische Integration vonstatten gehen wird, muss man sehen.
SPIEGEL: Das Verhältnis Europas zu Amerika ist kompliziert geworden, auch der Um- gang mit Russland ist unklar. Sie sprechen vom Kampf der beiden Europas gegeneinander – des atlantischen und des kontinentalen Europa. Sie sind viel in Europa unterwegs. Wer sind Ihre Gesprächspartner?
Dugin: Das europäische Volk. Die Eliten spiegeln nicht die Meinung der Mehrheit wider. Das europäische Establishment versteht mich nicht, will die Russen nicht verstehen. Bei einfachen Leuten finde ich Gehör.
SPIEGEL: Und bei welchen Ihrer Philosophen-Kollegen?
Dugin: Dort ist es genau dasselbe. Bernard-Henri Levi kritisiert mein Buch „Die vierte politische Theorie“, hat es aber offenbar nicht mal gelesen. Jeder europäische Philosoph, der zum Establishment gehört, ist Teil des Systems. Mit diesem Teil der Elite gibt es nichts zu bereden. Auch ein Gespräch mit Habermas würde ins Nichts führen. Aber das sind wenige. Ich rede mit Taxifahrern, bayerischen Bauern, rumänischen Studenten, französischen Zimmermädchen.
SPIEGEL: Sie fahren nicht nach Deutschland, um mit irgendeinem Taxifahrer zu reden. Dugin: Ich rede auch mit Philosophen der alten Schule, die von den Trägern der neuen „Toleranz“ verjagt worden sind – mit Leuten wie Professor Friedrich-Wilhelm von Herrmann, einem Heidegger-Schüler. Seinetwegen bin ich nach Freiburg gefahren, er ist dort von der Lehre suspendiert worden – von den Vertretern irgendwelcher Gender-Pussy-Riot-Femen-Strukturen. Ich suche Leute, die das reale Europa darstellen. Ich suche Europa. Ich suche seine Spuren auch bei Dissidenten – bei linken oder rechten. Ich finde sogar in Russland mehr Spuren von Europa als in Europa selbst. Bei uns werden deutsche Romantiker wie Schelling und Hegel, wie Heidegger und Carl Schmitt gepflegt und nicht verflucht.
SPIEGEL: Der Moskauer Historiker Andrej Subow sagt, die Idee von der eigenständigen russischen oder eurasischen Zivilisation sei ein Trugbild. Sie sei nichts anderes als eine künstliche Isolierung Russlands von der übrigen Welt und Ergebnis eines kulturellen Primitivismus‘ – weil „wir vor Jahrzehnten schon unsere führende europäische Schicht vernichtet haben: Wir sind keine Integrationisten mehr wie unsere Vorväter vor 100 oder 200 Jahren.“ Ist Subow auch „psychisch krank“?
Dugin: Sein Standpunkt ist falsch, aber er hat das Recht, ihn darzulegen. Die Eurasier haben die europäische Schicht vernichtet? Auch unter den Vorvätern der Liberalen waren kommunistische Kommissare, die im Namen einer universellen Menschheits-entwicklung mordeten. Subow wurde am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen entlassen, weil er Putin nach der Annektion der Krim mit Hitler verglichen hatte. Aber er durfte zurückkehren. Mich haben Sie jetzt von der Moskauer Staats-Universität entfernt – wegen meiner Forderung, mit Truppen nach Neu-Russland einzumarschieren.
SPIEGEL: In den Osten der Ukraine.
Dugin: Ich darf nicht zurück. Sie haben einen Patrioten und einen Liberalen abgesetzt. Aber nur der Liberale darf zurück. Interessant.
SPIEGEL: Dostojewski, der Antiwestler, hat lange in Deutschland gelebt. Kein Widerspruch?
Dugin: Überhaupt nicht. Je länger ein Russe im Ausland lebt, umso russischer wird er. Deswegen verstehen mich die in Deutschland lebenden Russen so gut. Ich kann die europäische Kultur verstehen, ich übersetze europäische Poesie, ich gebe gerade wieder einen Heidegger-Band heraus. Ich liebe Europa, deswegen flößt mir das jetzige Europa einen solchen Schrecken ein. Ich sehe, dass es stirbt. Es ist nicht so wie Russland, bei uns gibt es auf jede Herausforderung eine andere Antwort. Bei Ihnen verschwindet die Vielfalt. Doch nicht genug damit, dass die Europäer Europa verlieren. Sie wollen auch, dass die Russen Russland aufgeben. Sucht Euer Europa oder verliert es ganz – das ist Eure Sache. Aber lasst uns in Ruhe.
SPIEGEL: Alexander Geljewitsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führte der Redakteur Christian Neef
https://magazin.spiegel.de/digital/index_SP.html#SP/2014/29/128101577