Interview: Pulverfass Berg-Karabach
Manuel Ochsenreiter ist Chefredakteur des Magazins ZUERST! und Direktor des 2016 gegründeten Deutschen Zentrums für Eurasische Studien. Robin Classen sprach mit ihm über Berg-Karabach.
Blaue Narzisse: Seit einigen Tagen hört man nichts mehr von Berg-Karabach. Sie haben einen guten Draht zu Menschen vor Ort, wie ist die Lage derzeit?
Manuel Ochsenreiter: Der Waffenstillstand ist brüchig. Das Verteidigungsministerium der Republik Berg-Karabach berichtet über regelmäßige Angriffe von aserbaidschanischer Seite. Auf der anderen Seite wirft Baku wiederum Armenien vor – Aserbaidschan weigert sich, die Streitkräfte Berg-Karabachs als eigenständige Armee zu betrachten –, die Waffenruhe zu brechen. Generell ist das aber die „normale“ Situation an der Kontaktlinie zwischen Berg-Karabach und Aserbaidschan, die in Wirklichkeit eine mit Grabensystemen gut befestigte Frontlinie ist. In der Vergangenheit kam es ununterbrochen zu Provokationen von aserbaidschanischer Seite, meist Scharfschützenangriffen – seit Mitte 2015 aber auch immer öfter mit größeren Kalibern.
Welche Rolle spielt in Ihren Augen die Türkei und ihr gespanntes Verhältnis zu Rußland bei diesem Konflikt?
Die Türkei spielt seit jeher die Rolle des Scharfmachers auch im Südkaukasus. Sie ist ein enger Verbündeter Aserbaidschans. Baku erhält von Ankara Militärhilfe und Waffen. Die Aserbaidschaner werden von der Türkei als „Brudervolk“ betrachtet. Gleichzeitig ist die Türkei NATO-Mitglied und nicht weit von der türkisch-armenischen Grenze sind US-Truppen stationiert. In Armenien wiederum sind russische Truppen stationiert.
Allein schon daran läßt sich erkennen, wie vielschichtig und komplex das Interessengestrüpp im Südkaukasus ist. Der türkisch-armenische Gegensatz ist kein reiner Regionalkonflikt zwischen zwei Staaten, sondern ein geopolitischer Krisenherd, an dem die beiden Großmächte USA und Rußland beteiligt sind.
Zwischen Ankara und Jerewan herrscht diplomatische Eiszeit wegen des türkischen Völkermords an den Armeniern 1915. Während Armenien von der Türkei verlangt, den Genozid endlich zuzugeben und anzuerkennen, wird er in Ankara abgestritten. Der Konflikt mit Aserbaidschan steht auch unter dem Zeichen dieses Völkermords, weil Jerewan in Baku nichts anderes als einen türkischen Stellvertreter sieht – und damit auch gar nicht so falsch liegt.
Armenien ist zudem Mitglied in der „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS), einem von Rußland geführten Militärbündnis mit Hauptquartier in Moskau. Aserbaidschan war ebenfalls Mitglied der OVKS, hat den Vertrag aber 2009 ohne Verlängerung auslaufen lassen. An der türkisch-armenischen Grenze stehen sich also NATO und OVKS direkt gegenüber, während im Rücken Armeniens mit Aserbaidschan ein Land „lauert“, welches vom NATO-Staat Türkei unterstützt wird.
Die plötzliche Eskalation der Gewalt Anfang April interpretieren daher manche Analysten durchaus als im türkischen Interesse – vor allem nach den türkisch-russischen Spannungen im Syrienkrieg. Es gibt Berichte, daß die aserbaidschanische Armee auf türkische Initiative Berg-Karabach angegriffen hätte, was plausibel wäre. Es gab auch Vorzeichen: Im März besuchte der türkische Ministerpräsident Baku und sagte dort, es sei nun an der Zeit, Berg-Karabach zurückzuerobern.
Russland hatte bislang sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan einen guten Draht. Wie bewerten Sie das russische Engagement?
Rußland ist geradezu dazu „verdammt“, im Südkaukasus für eine Balance und damit für Waffenruhe zu sorgen. Ein offener und langer Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan wäre für die Sicherheitsinteressen Rußlands – aber auch für die des Iran – ein unkalkulierbares Risiko. Bereits während des Berg-Karabach-Krieges Anfang der 1990er Jahre strömten dschihadistische Freischärler nach Aserbaidschan, um gegen die armenischen „Ungläubigen“ zu kämpfen. Auch Angehörige der ultranationalistischen „Grauen Wölfe“ aus der Türkei kämpften auf der Seite Aserbaidschans. Solche Milizenverbände sind schlecht oder gar nicht kontrollierbar – man sieht es beispielsweise in der Ukraine mit dem hauptsächlich aus Kriminellen und Extremisten bestehenden Freiwilligenverband „Azov“, den dschihadistischen Brigaden im Syrienkrieg oder auch den saudi-arabischen Freischärlern im Bosnienkrieg in den 1990er Jahren. Ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte die Region also schnell in einen Magneten für international operierende Terrororganisationen verwandeln. Rußland hat an einer solchen Entwicklung natürlich kein Interesse. Denn der Funke könnte schnell auf den russischen Nordkaukasus überspringen. Vor allem in Dagestan gab es bereits immer wieder Probleme mit islamistischen Terrorbanden.
Daß diese Gefahren real sind, war bereits beim Aufflammen des armenisch-aserbaidschanischen Konfliktes Anfang April zu sehen: Islamistische Kampforganisationen zeigten sich solidarisch mit Aserbaidschan, und von der ukrainischen „Azov“-Freischärlertruppe kündigten Kämpfer an, an der Seite Aserbaidschans kämpfen zu wollen.
Auch sonst positionieren sich Armenien und Aserbaidschan in geopolitischen Fragen unterschiedlich: Armenien steht im Syrienkrieg auf der Seite der syrischen Regierung – allein schon wegen der großen armenischen Diaspora dort –, während Aserbaidschan die Terroristen („demokratischer Aufstand“) unterstützt. Jerewan erkennt die Vereinigung der Krim mit der Russischen Föderation an, während Baku die ukrainische Sichtweise unterstützt und von einer „Annexion“ spricht.
Obwohl sich also Aserbaidschan in sämtlichen Fragen viel mehr „anti-russisch“ positioniert, muß Moskau das Land mit seinem Diktator Alijew trotzdem bei Laune halten. Aserbaidschan ist im Gegensatz zu Armenien ein reiches Land mit großen Rohstoffvorkommen. Alijew mag in Moskau zwar als „unsicherer Kantonist“ wahrgenommen werden, aber man weiß, daß er im Gegensatz zur vom Westen unterstützten Opposition noch einigermaßen berechenbar ist. Gleichzeitig darf man es sich mit OVKS-Partner Armenien nicht verscherzen. Was zunächst nach der Quadratur des Kreises klingt, hat lange funktioniert.
In beiden Ländern – Armenien und Aserbaidschan – arbeiten derweil kräftig westlich finanzierte NGOs am jeweiligen „Regime Change“. In Aserbaidschan gegen Diktator Alijew, in Armenien gegen Präsident Sargsjan. Sowohl in Baku als auch in Jerewan kam es in der Vergangenheit zu pro-westlichen und anti-russischen Protesten mit jeweils unterschiedlichem Inhalt: In Aserbaidschan bedient man sich der Menschen– und Bürgerrechtsthematik, um Alijew zu stürzen – in Armenien werfen Oppositionelle der Regierung Sargsjan vor, sich mit Moskau in ein völlig unnützes Bündnis begeben zu haben, welches für Armenien von Nachteil sei. Für armenische Oppositionelle locken zudem die USA, EU und NATO mit Fördermitteln.
Sowohl die Proteste in Armenien als auch in Aserbaidschan werden in Moskau nervös zur Kenntnis genommen. Das „Worst Case“-Szenario würde nämlich folgendermaßen aussehen: Aserbaidschan (14 anerkannte Minderheitensprachen aus vier verschiedenen Sprachfamilien) könnte ins Chaos gestürzt werden, verschiedene nationale Minderheiten könnten die Schwäche des Moments nutzen, um sich vom Land abzuspalten. Kampferprobte Dschihadisten könnten beispielsweise aus Syrien ins Land einsickern, um das Projekt „Kaukasus-Kalifat“ zu verwirklichen. Ankara könnte in dem Moment „Verantwortung übernehmen“ und Aserbaidschan offiziell zu einem türkischen Protektorat machen. Damit stünde Rußland entweder vor einem brodelnden Unruheherd oder vor einem türkischen Sperrriegel im Südkaukasus, der bis zum Kaspischen Meer reicht. Oder vor beidem gleichzeitig.
Und würde ein pro-westlicher Regime-Change in Armenien gelingen, würde Jerewan aus der russischen Sicherheitsarchitektur herausbrechen. Armenien würde die OVKS verlassen – und sich höchstwahrscheinlich der NATO annähern – allein schon deshalb, weil man in Jerewan weiß, daß man wegen der eigenen knappen Mittel einen starken Verbündeten zur Sicherung der Verteidigung braucht. Rußland hätte damit seinen Einfluß auf den Südkaukasus faktisch verloren.
Daher fährt Moskau doppelgleisig: Strategische Partnerschaft mit Armenien, Zusammenarbeit inklusive Waffenlieferungen an Aserbaidschan, was in Armenien wiederum zu Protesten führt. Gute Beziehungen sowohl zu Armenien als auch zu Aserbaidschan sind für Rußland von strategischer Bedeutung – dazu zählt auch die innere Stabilität der beiden Kontrahenten. Nicht zu vergessen: In Rußland leben Millionen Armenier und Aserbaidschaner. Eine Eskalation im Südkaukasus würde somit auch Konflikte in Moskau nach sich ziehen.
Hand aufs Herz: Gibt es für den verfahrenen Konflikt um Berg-Karabach überhaupt eine realistische Lösung?
Derzeit scheint der Status Quo die beste unter den schlechten Lösungen. Berg-Karabach ist eine real existierende Republik mit voll entwickelter Staatlichkeit. Paradoxerweise sind in Berg-Karabach Menschen– und Bürgerrechte gesichert, Wahlen verlaufen dort geordnet und ohne Fälschungen, während Aserbaidschan unter Alijew ohne Abstriche als Diktatur bezeichnet werden kann. Aus westlicher Perspektive bedeutet das: Ausgerechnet in der Region Aserbaidschans, die nach westlicher Lesart „armenisch besetzt“ ist, herrschen mehr Rechtssicherheit und demokratische Kultur als im restlichen Land.
Eine offizielle Anerkennung Berg-Karabachs als eigenständiger Staat liefe auf eine neue Eskalation hinaus, die alle vorherigen Waffengänge an der Kontaktlinie an Intensität und Brutalität wohl in den Schatten stellen würden. Denn eine Anerkennung würde bedeuten, daß die Verhandlungen über den Status Berg-Karabachs beendet wären. Aserbaidschan und die Türkei würden in dem Moment angreifen.
Aber andererseits könnte die Weltgemeinschaft durch eine Anerkennung des Rechts Berg-Karabachs auf nationale Selbstbestimmung sowie durch die völkerrechtliche Anerkennung der Regierung auch einen Spielraum schaffen, um eine solche abzusehende türkisch-aserbaidschanische Aggression zu verhindern.
Es geht derzeit nicht um eine „perfekte Lösung“ des Konflikts, sondern darum, die schlechteste aller Lösungen – einen langen, opferreichen Krieg, der schnell auch andere Länder miteinbeziehen würde – zu verhindern.
Vielen Dank für das Gespräch!