Fragwürdige "Zitate": Thomas Barnett und Richard Coudenhove-Kalergi

10.07.2016

Seit einer Weile geistert ein Zitat durchs Internet, das einen geradezu satanischen Plan zu enthüllen scheint: „Das Endziel“, so heißt es, „ist die Gleichschaltung aller Länder der Erde. Sie soll durch die Vermischung der Rassen herbeigeführt werden. Mit dem Ziel einer hellbraunen Rasse in Europa. Hierfür sollen in Europa jährlich 1,5 Millionen Einwanderer aus der dritten Welt aufgenommen werden. Das Ergebnis ist eine Bevölkerung mit einem durchschnittlichen IQ von 90, zu dumm, um zu begreifen, aber intelligent genug, um zu arbeiten.“ Da bleibt einem glatt die Luft weg. Haben wir es nicht schon immer gewußt, daß die – ja, wer eigentlich? – vorhaben, alle gewachsenen Völker zu vernichten und durch einen ethnischen Einheitsbrei zu ersetzen, der gerade noch zur Sklavenarbeit taugt?

Es ist also dieses „Endziel“, das hinter der im letzten Jahr massiv angestiegenen Migrationswelle nach Europa steht. Wessen Ziel, bleibt im dunkeln. Irgendwelche Initiatoren oder Nutznießer der Globalisierung eben, anonyme Hintergrundmächte, die Weltfinanzelite. Deren finsterer Plan wird jetzt rigoros in die Tat umgesetzt. Das wiedergegebene Zitat klingt wie eine Mischung aus Richard Coudenhove-Kalergi und Thilo Sarrazin, doch es soll von Thomas P.M. Barnett [Bild] stammen, der in einem über 56.000mal angeklickten Video als „Cheftheoretiker der Globalisierung“ vorgestellt wird. Diesen Mann gibt es tatsächlich, er wurde 1962 im US-Bundesstaat Wisconsin geboren, hat mehrere Bücher geschrieben und ist wirklich ein begeisterter Befürworter einer Entwicklung, durch die Grenzen immer durchlässiger werden und nationale Unterschiede zunehmend verschwimmen.

Doch deren Cheftheoretiker? Nun ja. Barnett ist Politikwissenschaftler und war von 1998 bis 2004 Professor an der US-Seekriegsakademie (US Naval War College). Dort leitete er unter anderem ein Projekt, das sich mit den Folgen der Globalisierung für die Regeln der internationalen Sicherheit befaßte und besonders die Bedeutung dieser Entwicklung für das US-Militär auslotete. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 berief ihn US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in eine Behörde, die die zuvor entwickelten Konzepte für das Militär umsetzen sollte. Seine Theorien legte er in zwei Büchern dar: "The Pentagon’s New Map" (Die neue Landkarte des Pentagon) und "Blueprint for Action" (Entwurf zum Handeln), erschienen 2004 und 2005, beide nicht ins Deutsche übersetzt. Um es vorweg zu sagen: Barnetts Vorstellung von der Welt ist überaus unsympathisch.

Er teilt sie auf in einen „Core“ (Kern) jener Staaten, die „funktionieren“, und den „Gap“ (Lücke), jene Länder oder Gebiete, die in das System der Globalisierung (noch) nicht integriert sind. Migration ist tatsächlich ein Thema für den US-Strategen. Er geht davon aus, daß die Weltbevölkerung um 2050 den Höhepunkt ihres Wachstums erreichen wird, mit etwa neun Milliarden Menschen, und danach nicht mehr spürbar wächst oder sogar wieder schrumpft. Von diesen neun werden zwei Milliarden über 60 Jahre alt sein und zwei Milliarden 14 Jahre oder jünger, der Rest liegt dazwischen. Das Problem: Zu viele der Jungen werden im „Gap“ leben und zu viele der Alten im „Core“. Daher seien, damit die Welt aus der Sicht der westlich-kapitalistischen Globalisierungs-Anhänger weiter gut funktioniert, Wanderungen aus dem Gap in den Core unausweichlich, vernünftig und zu begrüßen.

Barnett wettert gegen „rechte Anti-Einwanderungs-Politiker“ im „fremdenfeindlichen Europa“ und gegen Japans Unwilligkeit, sich Migranten zu öffnen. Und es bleibt nicht bei der Theorie: Das Ehepaar Barnett hat ein Mädchen aus China und zwei aus Äthiopien adoptiert. Somit wären dem Autor die genannten Aussprüche durchaus zuzutrauen. Tatsächlich hat er sie aber nicht geschrieben. Das „Zitat“ ist eine typische Blüte des Internets: Einer kopiert es vom anderen, und nirgends ist eine Quelle angegeben. Eine winzige Annäherung findet man in The Pentagon’s New Map auf Seite 211. Übersetzt heißt es dort: „Wenn Europa jedes Jahr 1,5 Millionen Einwanderer hereinlassen würde, wäre 2050 ein Viertel der Bevölkerung im Ausland geboren. Daß das geschieht, kann ich mir vorstellen.“

Von einem „Endziel“ ist nicht die Rede, von „Rassenvermischung“ und „IQ“ auch nicht. Und was Barnett sich vorstellen kann, stammt nicht einmal von ihm, er bezieht sich ausdrücklich auf die Studie zur „Replacement Migration“ der UN-Bevölkerungsabteilung aus dem Jahr 2000. In diesem Papier werden für einzelne Länder und Europa Szenarien der Bevölkerungsentwicklung durchgerechnet. Gefragt wird etwa: Wieviel Einwanderung brauchte es, um das Verhältnis der arbeitenden zur nicht arbeitenden Bevölkerung konstant zu halten? Diese Studie zur „Ersatzmigration“ ist weder geheim noch ein perfider Plan zum Bevölkerungsaustausch, sondern das täglich Brot der demographischen Forschung. Im Gegensatz zu Einwanderungs-Enthusiasten wie Barnett ist die UN auch nicht völlig unkritisch und warnt etwa vor „sozialen Spannungen“ in den Zielländern durch die Migration.

Die Lösung ist recht simpel. Mit Barnett und seinen Schriften hat sich als einer der ersten im deutschsprachigen Raum der österreichische Autor Richard Melisch beschäftigt, und zwar in seinem 2007 erschienenen Buch "Der letzte Akt. Die Kriegserklärung der Globalisierer". Das obenerwähnte Video gibt einen Ausschnitt aus einem Vortrag des verdienten Prof. Michael Vogt aus dem Jahr 2013 wieder. Was heute als zusammenhängendes Zitat Thomas Barnett zugeschrieben wird, stammt ursprünglich aus diesem Vortrag, in dem Vogt einige Stellen aus dem Buch von Melisch zitiert. Was in dem „Zitat“ Originalton Barnett, was Interpretation von Melisch und was eigene Formulierung des Vortragenden ist, wird dieser gewiß auseinanderhalten können. Für andere ist es nicht rekonstruierbar. Und wer aus der Passage ein „Barnett-Zitat“ gemacht hat, bleibt im Dschungel des Internets verborgen.

Die „hellbraune Rasse“, die das alte Europa künftig bevölkern soll, scheint eine modernisierte Form der „eurasisch-negroiden Zukunftsrasse“ des Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi zu sein, dessen „Plan“ verläßlich immer wieder als Ursprung der zunehmenden Überfremdung Europas zitiert wird. Kalergi wurde 1894 in Tokio als Sohn eines österreichischen-ungarischen Diplomaten und einer Japanerin geboren, wuchs aber in Europa auf. Er studierte in Wien, wo er 1922 einer Freimaurer-Loge beitrat, und gründete 1924 die Paneuropa-Union, quasi die erste Organisation, die sich die Einigung Europas auf die Fahnen geschrieben hatte. Ihr sollten später eine Reihe prominenter Politiker angehören. Nach dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich emigrierte Kalergi mit seiner jüdischen Frau über Preßburg und Bern erst nach Frankreich und 1940 dann nach New York.

Seine Ideen hatte er insbesondere in den zwanziger Jahren in einer Reihe von Büchern ausgebreitet, darunter "Paneuropa" (1923) und "Praktischer Idealismus" (1925). War der Vordenker der heutigen EU jedoch auch der Prophet einer neuen ethnischen Zusammensetzung Europas? Dies könnte man glauben, wenn man folgende Sätze liest: „Für Paneuropa wünsche ich mir eine eurasisch-negroide Zukunftsrasse. […] Die Führer sollen die Juden stellen, denn eine gütige Vorsehung hat Europa mit den Juden eine neue Adelsrasse von Geistes Gnaden geschenkt.“ Sofern dafür eine Quelle genannt wird, soll dies die Wiener Freimaurer-Zeitung (Ausgabe 9/10, 1923) sein. Der Haken ist bloß: Das „Zitat“ steht dort nicht. ZUERST! hat auf Anfrage vom Freimauerer-Museum in Bayreuth eine Kopie der Zeitung erhalten. In dem 24seitigen Blättchen ist weder ein Beitrag von noch über Coudenhove-Kalergi enthalten, diese Quellenangabe ist also schlicht und ergreifend falsch.

Komplett erfunden ist das Ganze jedoch nicht. In "Praktischer Idealismus" widmet sich der Autor den Fragen von „Inzucht“ und „Kreuzung“ und stellt auf Seite 22/23 fest: „Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung von Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen. Die eurasisch-negroide Zukunftsrasse, äußerlich der altägyptischen ähnlich, wird die Vielfalt der Völker durch eine Vielfalt der Persönlichkeiten ersetzen.“ Zu den Juden äußert er sich an ganz anderer Stelle im Buch. So heißt es auf Seite 50, die lange Zeit der Verfolgung habe quasi einen „künstlichen Ausleseprozeß“ in Gang gesetzt, dessen Resultat die Veredelung der Juden gewesen sei. Somit habe „eine gütige Vorsehung“ Europa tatsächlich „eine neue Adelsrasse von Geistes Gnaden geschenkt“.

Wir haben hier also zwei Textstellen. In der einen steht, was der Autor für die Menschen „der fernen Zukunft“ erwartet. Die andere interpretiert einen historischen Vorgang und wertet dessen Ergebnis positiv. Beides kann man natürlich anders sehen als Coudenhove-Kalergi. Doch an keiner Stelle steht, daß er sich das von ihm Beschriebene wünscht, es fordert oder gar plant, wozu er ohnehin auch gar nicht die Position und die Machtmittel gehabt hätte. Im Grunde ist es dasselbe Strickmuster wie bei Barnett: Einzelne Textbausteine werden aus dem Zusammenhang gerissen, neu kombiniert und mit einem bestimmten Dreh versehen. So etwas nennt man Fälschung, gedacht für jenen Teil des Publikums, der am liebsten liest, was seine vorgefaßten Ansichten bestätigt. Mit einem kritischen oder gar „aufklärerischen“ Ansatz sind solche Methoden wohl kaum vereinbar.

Steve Lerod, zuerst.de (9.7.2016)