FLÜCHTLINGSROUTEN: Wird Italien das neue Griechenland?
Seit der Weg für Flüchtlinge über den Balkan dicht ist, fürchtet Italien eine neue Immigrationswelle. Schlepperbanden wollen syrische Flüchtlinge direkt an die Küsten Apuliens und Lampedusas bringen.
Von Constanze Reuscher, Rom
Zum Karfreitag hat Italiens Premier Matteo Renzi in diesem Jahr keinen Gottesdienst in Rom besucht, sondern eine Stippvisite auf Lampedusa gemacht. Die kleine Insel im Süden von Sizilien war zuletzt im Februar in den Schlagzeilen gewesen. Der Dokumentarfilm "Fuocoammare" über die Versorgung der Flüchtlinge hatte bei den Berliner Filmfestspielen den Goldenen Bären gewonnen. Renzis Besuch dürfte ein Signal sein, dass das Thema noch nicht ins Filmarchiv gehört.
Italien fürchtet, dass vor allem syrische Flüchtlinge demnächst über die Küsten im Süden des Landes nach Europa einreisen könnten. Der italienische Innenminister Angelino Alfano erklärte, dass eine Umleitung der Route über Italien logisch sei, "sobald die nun geschlossenen Balkangrenzen dem massiven Immigrationsfluss aus der Türkei die Durchreise nach Nordeuropa verhindern" würden. Medienberichten zufolge dürfte der neue Flüchtlingsstrom Italien bereits Anfang April erreichen.
Zu den wahrscheinlichsten Routen gehört die Strecke über Albanien, das Flüchtlinge aus Griechenland über die Landgrenze erreichen können. Von dort könnten sie in Booten nach Italien übersetzen. Lediglich 50 Seemeilen, also 80 Kilometer, trennen Albanien von den Küsten der süditalienischen Region Apulien, mit einem Schnellboot schafft man das in zwei Stunden. Dass die italienische Regierung diese Möglichkeit nicht ausschließt, zeigen intensive diplomatische Aktivitäten beider Länder: Der italienische Staatssekretär für Europafragen, Sandro Gozi, hatte bereits mit dem albanischen Premier Edi Rama verhandelt, wie man für stärkere Kontrollen gegen Schlepper in der Adria kooperieren könne.
Schon Mitte März war auch Innenminister Alfano zu Beratungen zu seinem Amtskollegen Saimir Tahiri nach Albanien gereist, zudem nahm er Kontakte zur Regierung in Montenegro auf. "Sollte sich die Adriaroute öffnen, müssen wir in der Lage sein, mit einem neuen Notstand umzugehen", sagte er der Tageszeitung "La Stampa". Dieselbe Zeitung zitiert auch italienische Regierungsquellen, die von 120.000 bis 140.000 möglichen Flüchtlingen ausgehen, die aus Griechenland über die Adriaroute einreisen könnten.
In Albanien, so wird die albanische Lokalpresse zitiert, würden derzeit Aufnahmezentren für 10.000 syrische Flüchtlinge nahe der griechischen Grenze eingerichtet. "Albanische Menschenhändler könnten sich wie vor 20 Jahren in Bewegung setzen", fürchtet der Präsident der Auslandskommission im römischen Parlament, Pier Ferdinando Casini. Damals kamen Zehntausende Albaner über das Meer nach Italien. Frontex-Vizechef Bernd Körner geht außerdem von einer weiteren Adriaroute über die Westküste Griechenlands nach Italien aus.
Die Schlepper haben bereits neue Geschäftsideen
Der Weg über die Adria nach Apulien ist auch nach Prognosen des US-amerikanischen Analyse-Instituts Stratfor eine der wahrscheinlichsten neuen Flüchtlingsrouten nach Europa. In dem Mitte März erschienenen Bericht "Is Italy the New Greece?" zeigen die Experten aber auch eine weitere Ausweichroute für Flüchtlinge aus dem östlichen Mittelmeer auf: aus türkischen Häfen über das Mittelmeer direkt nach Lampedusa und Sizilien. Das bestätigen unter anderen auch italienische Medienberichte. Die Reporterin der staatlichen italienischen TV-Anstalt Rai, Maria Cuffaro, ist in Idomeni mehrfach von syrischen Flüchtlingen nach Informationen über Italien angesprochen worden. "Sie erzählten mir von Angeboten der Schlepper, Familien auf Lkw und in Handelsschiffen nach Italien einzuschiffen. Pro Ticket soll das bis zu 5000 Euro kosten", sagte sie der "Welt".
Das Wochenmagazin "L'Espresso" berichtet in dieser Woche von Schlepperbanden, die in den türkischen Küstenstädten Izmir und Mersin die Route über das Mittelmeer nach Italien intensivieren würden. "Eine Strecke, die von einem internationalen kriminellen Netzwerk aus Türken, Libyern, Somaliern und Ägyptern organisiert wird und bis in zehn europäische Städte in Deutschland, Holland, Dänemark und Schweden verzweigt ist", heißt es in dem Bericht.
Die Organisation fordere 7500 Euro für die Überfahrt auf Handelsschiffen, Kinder reisten gratis mit. Die Passagiere würden zuerst auf Schlauchboote eingeschifft, dann auf See in Handelsschiffe und Kutter übergesetzt. Augenzeugen hätten von längeren Zwischenstopps in Alexandria in Ägypten berichtet, seltener seien Etappen in Libyen. Nach der Ankunft in Italien würde die Weiterreise gen Norden per Pkw organisiert - für weitere 800 Euro pro Person. Ermittlungen gegen diese Schlepperbanden führt auch die Nationale Antimafia-Staatsanwaltschaft Italiens (DNA) unter Chefermittler Franco Roberti. Seit 2014 sind nach Erkenntnissen der DNA 11.621 Menschen auf 65 Booten in Italien erfasst worden, die mithilfe von kriminellen Schleppern aus der Türkei nach Italien gekommen waren. Die neue Route ist also bereits organisiert.
Tatsächlich ist die Zahl der Ankömmlinge aus dem Mittelmeer an süditalienischen Küsten in den vergangenen Wochen stark angeschwollen. Seit Jahresbeginn kamen mehr als 13.000 Menschen, 36 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2015. Allein im März landeten über 5000 Flüchtlinge, die meisten von ihnen auf Sizilien. An einem einzigen Tag, dem 16. März, haben Boote der italienischen Küstenwache 1467 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer im Kanal von Sizilien gerettet.
Seit Wochen häufen sich Berichte, dass mindestens 200.000 weitere in libyschen Häfen auf die Abfahrt warten und es nur eine Frage des milderen Wetters sei, wann sie sich einschiffen werden. Die außenpolitische Vertreterin der EU, Federica Mogherini, warnte gar vor 450.000 Flüchtlingen, die sich aufgrund der weiterhin instabilen politischen Lage Libyens auf den Weg über das Mittelmeer machen könnten.
Doch handelt es sich bei ihnen zum großen Teil um die für Italien inzwischen traditionellen Immigranten der Libyenroute, Afrikaner aus Nigeria, Gambia und dem Senegal. Auch in sizilianischen Hotspots stellen Afrikaner die Mehrheit der Insassen. Der Bürgermeister der Stadt Palermo, Leoluca Orlando, bestätigt der "Welt" diese bisherige Tendenz: "Am 19. März hat ein norwegisches Schiff 712 Menschen in unseren Hafen gebracht. Unter ihnen war kein Syrer, alle waren Afrikaner und zum großen Teil Wirtschaftsflüchtlinge."
Doch die Südeuropa-Sprecherin des Flüchtlingshilfswerkes der Vereinten Nationen UNCHR, Carlotta Sami, warnte vor ersten Anzeichen einer anderen Entwicklung. Mitarbeiter der Organisation hätten in der ostsizilianischen Stadt Messina Syrer aufgegriffen. Einige hätten berichtet, sogar über Algerien nach Libyen und von dort nach Sizilien eingereist zu sein. Nach der Schließung der Balkanroute geht UNHCR-Sprecherin Sami von "dem Risiko einer neuen Explosion der Route aus Libyen nach Italien" aus.
Welt online (28.3.2016)