Die Vierte Politische Theorie

06.11.2013

Die Vierte Politische Theorie
In der heutigen Welt scheint es vorbei zu sein mit der Politik, zumindest wie man sie früher kannte. Der Liberalismus hat verbissen gegen diejenigen politischen Gegner gekämpft, die alternative Gesellschaftsmodelle angeboten haben, nämlich Konservatismus, Monarchismus, Traditionalismus, Faschismus, Sozialismus und Kommunismus, und er hat sie alle vor dem Ausgang des 20. Jahrhunderts endgültig besiegt. Es wäre daher logisch anzunehmen, da. die Politik liberal würde, während alle seiner ausgeschlossenen Gegner, am äusseren Rand der globalen Gesellschaft überlebend, ihre Strategien überdenken und eine neue, vereinte Front bilden nach dem von Alain de Benoist1 stammenden Konzept der "Peripherie gegen das Zentrum".2 Stattdessen nahm aber die Entwicklung am Anfang des 21. Jahrhunderts einen anderen Lauf.
Der Liberalismus, der immer darauf bestanden hat, die Bedeutung der Politik herunterzuspielen, entschloss sich nach seinem Triumph zu ihrer totalen Abschaffung, vielleicht um die Entstehung politischer Alternativen zu verhindern, oder weil seine politische Agenda mangels ideologischer Feinde einfach ausgedient hat, deren Vorhandensein Carl Schmitt3 für die richtige Herausarbeitung eines politischen Standpunkts unverzichtbar hielte.4 Gleich unter welchem Vorwand hat der Liberalismus alles getan, um den Verfall der Politik zu bewirken. Gleichzeitig hat der Liberalismus selbst einen Wandel vollzogen; er ist aus der Welt der Ideen, politischer Pl.ne und Deklarationen in die Realität getreten; er ist selbst ins physische Wesen der Sozialstruktur eingedrungen und hat sie durchtränkt; er hat wie ein Teil der Naturordnung zu erscheinen begonnen. Dies wurde uns nicht als ein politischer Prozess, sondern als ein organischer und natürlicher vorgestellt. Als Folge dieser historischen Wandlung haben alle anderen politischen Ideologien sich unerbittlich durch das letzte Jahrhundert befehdet und an Aktualit.t verloren. Konservatismus, Faschismus und Kommunismus, zusammen mit ihren vielen Spielarten, verloren den Kampf, und der siegreiche Liberalismus hat sich in einen Lebensstil verwandelt: Konsumismus, Individualismus und die postmoderne Erscheinung des zersplitterten, subpolitischen Menschen. Die Politik wurde biopolitisch5 und sank auf die individuelle und intraindividuelle Ebenen herab. Wie es sich herausstellte, sind nicht nur die besiegten Ideologien ausgeschieden, sondern auch die Politik selbst, sogar der Liberalismus in seinen ideologischen Erscheinungsformen. Dadurch wurde es fast unm.glich, sich eine Alternativform der Politik vorzustellen. 
Die, die sich mit dem Liberalismus nicht abfinden wollen, befinden sich in einer trostlosen Lage, denn der siegreiche Feind hat sich aufgelöst und ist verschwunden; man schlägt nur noch ins Leere. Wie kann man Politik betreiben, wenn es keine Politik mehr gibt?
Um uns den einzig möglichen Ausweg zu bahnen, müssen wir die herkömmlichen politischen Theorien ablehnen, seien sie Verlierer oder Gewinner; unsere Vorstellungskraft aufs äusserte anstrengen; die Realität einer neuen Welt begreifen; die Herausforderungen der Postmoderne entlarven; und etwas Neues schaffen, jenseits der politischen K.mpfe des 19. und 20. Jahrhunderts. Dieses Buch sollte als Einladung zur Entwicklung4 Schmitt schrieb in Theorie des Partisanen: "Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt".
Um auf dem Weg zur Entwicklung einer Vierten Politischen Theorie voranzuschreiten, müssen wir:
• die politische Geschichte der letzten Jahrhunderte von neuen Standpunkten aus erforschen, jenseits der Bezugsrahmen und Klischees alter Ideologien;
• das Tiefengefüge der vor unseren Augen entstehenden Weltgesellschaft deutlich erkennen;
• das Paradigma der Postmoderne richtig entschlüsseln;
• lernen, weder politische Ideen noch Programme noch Strategien anzufechten, sondern die objektive Wirklichkeit des Status quo, den sozial relevantesten Aspekt der apolitischen, zersplitterten (Post-)Gesellschaft;
• und zuletzt, ein eigenständiges politisches Modell ausersinnen, das aus dieser Welt von Stillst.nden, Sackgassen und der ewigen Wiederkehr des Immergleichen (nach Baudrillard, die "Nachgeschichte") mit einem neuen Projekt herausbricht.6
Dieses Buch ist exakt diesem Problem gewidmet, das heisst dem Anfang der Entwicklung einer Vierten Politischen Theorie, und zwar durch eine übersicht und durch eine neue Untersuchung der ersten 3 politischen Theorien sowie der diesen nahe verwandten Ideologien Nationalbolschewismus und Eurasismus, die der Vierten Politischen Theorie wohl recht nahe gekommen sind. Hier wird weder ein Dogma vorgetragen, noch ein fertiges System, noch ein abgeschlossenes Projekt. Es handelt sich vielmehr um eine Einladung zur politischen Kreativität, eine Darlegung von Eingebungen und Hypothesen, eine Analyse entstehender Zustände und einen Versuch zum Umdenken, was unsere Vergangenheit betrifft.
Die Vierte Politische Theorie ist nicht das Werk eines einzigen Autors, sondern eine Str.mung, die ein breites Spektrum an Ideen, Recherchen, Analysen, Prognosen und Projekten umfasst. Wer in diesem Sinne denkt, kann seine eigenen Ideen dazu beitragen. Immer mehr Intellektuelle, Philosophen, Historiker, Wissenschaftler und Denker werden sich dieser Herausforderung stellen.
Es ist von Bedeutung, da. das Buch Gegen den Liberalismus7 des renommierten franz.sischen Intellektuellen Alain de Benoist, das auch im Russischen von Amphora ver.ffentlicht wurde, den Untertitel Zur Vierten Politischen Theorie trägt. Gewiss kann viel zu diesem Thema gesagt werden, von Vertretern der alten Rechten und Linken und wahrscheinlich auch von den Liberalen selbst, die qualitative Veränderungen am eigenen politischen Programm konzipieren, auch während die Politik verschwindet.
Für meine Heimat, Russland, ist die Vierte Politische Theorie u.a. von immenser praktischer Bedeutung. Die Mehrheit der Russen erleidet ihre Integration in die Weltgesellschaft als den Verlust ihrer eigenen Identit.t. Die liberale Ideologie stie. in den 90er Jahren in Ru.land fast ausnahmslos auf Ablehnung. Es ist aber offenkundig, da. eine Rückkehr zu den illiberalen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, seien es Kommunismus oder Faschismus, unwahrscheinlich ist, da diese schon versagt und sich als dem Liberalismus nicht gewachsen gezeigt haben, ganz zu schweigen von den moralischen Kosten des Totalitarismus. 
Um dieses politisch-ideologische Vakuum auszufüllen, bedarf Russland einer neuen politischen Idee. Für Russland ist der Liberalismus nicht geeignet, aber Kommunismus und Faschismus sind ebenso unverwendbar. Wir ben.tigen also eine Vierte Politische Theorie. Auch wenn diese für einige Leser eine Frage der freien Entscheidung und der Durchsetzung des politischen Willens ist, die man immer aus positiver oder negativer Sicht betrachten kann, geht es Ru.land hier um Leben und Tod; um "Sein oder Nichtsein", wie die ewige Frage Hamlets lautet.
Wenn Ru.land das Sein w.hlt, wird es die Entstehung einer Vierten Politischen Theorie notwendig herbeiführen. Sonst bleibt Russland nur die Wahl des Nichtseins, die nichts anderes bedeutet als das Abtreten von der Weltbühne, den Austritt aus der Geschichte und die Aufl.sung in einer Weltordnung, die wir weder gestalten noch regieren.
 
1 Alain de Benoist, geb. 1943, gründete 1968 das Groupement de Recherche et d’.tudes pour la Civilisation Europ.enne, die neueste und prominenteste Gruppe der später sogenannten .europ.ischen neuen Rechte., und bleibt bis heute ihr bekanntester Vertreter. Hrsg.
2 In einer am 12. Mai 1993 in Frankreich gehaltenen Rede forderte Benoist die Ablehnung der herk.mmlichen Links-Rechts-Dichtomie zugunsten der Begriffe .Zentrum. und .Peripherie.. Als das Zentrum definierte er die verschiedenen Faktionen, seien sie rechts oder links, die die herrschende Ideologie eines Landes auf beiden Seiten des Spektrums vertreten, und als die Peripherie alle Kräfte, die diese Ideologie ablehnen. Seiner Ansicht zufolge sollten sich die rechten und linken Ränder verbünden, anstatt sich denjenigen Gruppierungen anzuschlie.en, die die herrschende Ordnung billigen—etwa Konservativen oder Liberalen des Mainstreams—, da dies einen l.hmenden Kompromiss darstellt. Hrsg.
3 Carl Schmitt, 1888-1985, war ein anerkannter deutscher Jurist, der über Politikwissenschaft, Geopolitik und Verfassungsrecht schrieb. Er wird der Konservativen Revolution der Weimarer Zeit zugeordnet und unterstützte für kurze Zeit die Nationalsozialisten am Beginn ihrer Herrschaft, die sich aber sp.ter gegen ihn wandten. Seine Werke in Recht und Philosophie sind noch heute einflu.reich. Hrsg.
4. Eine Fussnote in der Ausgabe dieses Buches von Telos Press weist darauf hin, dass Schmitt diesen Begriff in seinen Nachkriegsaufzeichnungen, Nürnberg 1947, folgendermassen erklärt hat: .Historia in nuce. Freund und Feind. Der Freund ist, wer mich bejaht und best.tigt. Feind ist, wer mich in Frage stellt. Wer kann mich denn in Frage stellen? Im Grunde doch nur ich mich selbst." Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Das bedeutet in concreto: nur mein Bruder kann mich in Frage stellen und nur mein Bruder kann mein Feind sein.. Aus Glossarium: Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951 (Berlin: Duncker & Humblot, 1991), p. 217.
5 Die Biopolitik, wie sie Michel Foucault in Die Geschichte der Sexualität sowie in seinen Vortr.gen definierte, ist das Mittel, wodurch ein politisches System die eigentlichen physischen, biologischen Leben der Beherrschten regelt, z.B. in den Bereichen Gesundheit und Medizin; Sexualit.t und Fortpflanzung; und Familienleben.
6 Jean Baudrillard, 1929-2007, war ein franz.sischer Philosoph und Kulturtheoretiker und gilt als Vordenker der Postmoderne. In einigen seiner Werke, wie zum Beispiel Die Illusion des Endes, postulierte er, da. ein neues Zeitalter der Zivilisation beginnt, in dem die Begriffe der .Geschichte. selbst und des marxistischen geschichtlichen Fortschritts keine Geltung mehr finden. Demzufolge endet die Geschichte nicht, weil irgendein Ziel erreicht wurde, sondern weil die Geschichte irrelevant geworden ist. Hrsg.
7 Im Russischen, Protiv liberalizma: K chetvertoi politicheskoi teorii. Dugin hat diese Aufsatzsammlung in Zusammenarbeit mit Alain de Benoist für seine russische Leserschaft zusammengestellt, die bisher nicht auf Deutsch erschienen ist. Hrsg.