Der Krieg gegen die multipolare Welt

16.06.2023
Führende Politiker legen nahe, man könne eine fortgesetzte Verschärfung des Krieges in der Ukraine riskieren, weil ein Sieg Russlands schlimmer wäre als ein Dritter Weltkrieg. Worum geht es bei dieser enormen Bereitschaft zur Eskalation? Warum scheint es keinen Plan B zu geben? Aus welchem Grund hat die politische Elite in den USA wie auch in Deutschland ihr Schicksal mit der Durchsetzung einer vom Westen geführten Weltordnung verknüpft?

Es ist nicht zu übersehen, dass sich die westliche Welt gegenüber Russland in einer Art Kriegsbegeisterung befindet. Jede Eskalation scheint fast automatisch die nächste nach sich zu ziehen. Kaum war die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine beschlossen, wurde schon über die Lieferung von Kampfjets gesprochen. Gerade war eine amerikanische Spionagedrohne in der Nähe der russischen Grenze durch den dichten Vorbeiflug eines russischen Kampfjets zum Absturz gebracht worden, da veröffentlichte der internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin. Mit der Kriminalisierung des russischen Präsidenten hat der Westen den Weg zu einer Verhandlungslösung bewusst zerstört und die Eskalation auf eine neue Ebene gehoben. Doch als wäre die damit erreichte Stufe noch nicht hoch genug, kündigte Großbritannien die Lieferung von Uran-Munition an, die zwar als „konventionelle“ Waffe gilt, jedoch radioaktive Strahlung am Explosionsort zurücklässt. Moskaus Antwort ließ nicht lange auf sich warten und bestand in dem Beschluss, demnächst taktische Atomwaffen in Weißrussland zu stationieren.

Der Verzicht auf Eskalationskontrolle

Woher stammt diese fast schon reflexartige Eskalationsbereitsschaft der heute regierenden Politiker? Handelt es sich um ein Dekadenzphänomen? So etwas tritt auf, wenn die Anpassung an den Zeitgeist wichtiger geworden ist als die Anpassung an die Realität. Oder ist die Eskalationsbereitschaft rational zu erklären? Ist sie vielleicht Ausdruck einer bestimmten politischen Zielsetzung, die zwar in Gefahr geraten ist, aber von der regierenden politischen Klasse nicht aufgegeben werden kann und deshalb nur noch durch ein Vabanquespiel erreichbar scheint?

Auf Letzteres deutet eine bemerkenswerte Aussage hin, die der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 18. Februar auf der Münchner Sicherheitskonferenz getätigt hat: Stoltenberg räumte in seiner Rede ein, dass im Zuge der fortgesetzten Unterstützung der Ukraine das Risiko einer nicht länger kontrollierbaren militärischen Eskalation zwischen der NATO und Russland bestehe. Er machte aber im Anschluss daran auch sofort deutlich, dass es keine risikofreien Lösungen gäbe und „dass das größte Risiko von allen ein Sieg Russlands wäre“. Damit legitimierte Stoltenberg in gewisser Weise das Wagnis einer militärischen Eskalation zwischen den beiden nuklearen Supermächten. Mit anderen Worten: Man könne ruhig die Eskalation riskieren, weil ein Sieg Russlands in der Ukraine potenziell schlimmer wäre als ein Dritter Weltkrieg.

Nun könnte man die Aussage Stoltenbergs als irrational abtun, wenn sie nicht in Übereinstimmung stehen würde mit weiteren alarmierenden Aussagen von Politikern, Militärs und gut vernetzten Personen. Man denke etwa an die selbstgewisse Bemerkung von Rob Bauer, dem Vorsitzenden des NATO-Militärausschusses (Military Committee), der sich zuversichtlich zeigte, dass Putin selbst im Falle einer Eskalation keine Atomwaffen einsetzen würde (1), was ja impliziert, dass man die Eskalation ruhig wagen könne. Dass auch andere Führungskräfte der NATO ähnlich denken, ist kürzlich von einer Prostituierten, die in diesen Kreisen verkehrt, öffentlich gemacht worden. Auch der Regierungschef Ungarns, Victor Orban, hat unlängst davor gewarnt, dass westliche Länder kurz davor stehen, ernsthaft darüber zu diskutieren, eigene Truppen in die Ukraine zu entsenden. Nur zwei Tage später äußerte der berühmte Investigativjournalist Seymour Hersh, der für seine Quellen in der staatlichen Bürokratie Washingtons bekannt ist, ganz ähnliche Warnungen. Nach Hersh denke man in der US-Regierung darüber nach, unter dem Deckmantel der NATO eigene Truppen in die Ukraine zu schicken. Der serbische Präsident wiederum kommentierte die Nachricht vom Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den russischen Präsidenten mit den Worten „Und ich bin bereit ihnen zu sagen, dass ich befürchte, dass wir nicht weit vom Ausbruch des dritten Weltkriegs entfernt sind“. Denn es sei eine Situation entstanden, „in der beide Seiten auf alles oder nichts setzen werden und bis zum Ende spielen.“ Im vergangenen Dezember hatte sich der legendäre amerikanische Außenminister Henry Kissinger ähnlich geäußert. In seinem Artikel „How to avoid another world war“ beschrieb er, wie in diesem Krieg absolute Positionen aufeinanderprallen, die tatsächlich zum Ausbruch eines Weltkrieges führen könnten.

Äußerungen dieser Art werfen die Frage auf, worum in der Ukraine eigentlich gekämpft wird – worum geht es bei dieser enormen Bereitschaft zur Eskalation eigentlich? Um die Kohlereviere des Donbass? Wohl eher nicht. Doch worum geht es dann?

Der Gegensatz von unipolarer und multipolarer Weltordnung

Die Arbeitsthese dieses Essays lautet, dass im Ukrainekonflikt um zwei Weltordnungskonzepte gerungen wird, nämlich um den Gegensatz zwischen einer unipolaren und einer multipolaren Weltordnung. Im Folgenden sollen die Eigenschaften beider Weltordnungsprinzipien erschlossen und einander gegenübergestellt werden.

Betrachtet man die außenpolitischen Dokumente, die in den letzten zwei Jahrzehnten von führenden Zeitschriften für westliche Außenpolitik publiziert worden sind (z. B. in den USA „Foreign Affairs“, Zeitschrift des Council on Foreign Relations, oder in Deutschland „Internationale Politik“, Zeitschrift der DGAP – Deutsche Gesellschaft für auswärtige Politik), so springt ein Umstand besonders ins Auge: In diesen Publikationen wird das Ziel einer von den USA bzw. der NATO normativ regierten Welt nicht hinterfragt, sondern immer vorausgesetzt. Das potenzielle Scheitern westlicher Dominanz wird gar nicht erst erwogen, nicht einmal als Möglichkeit. Ähnlich verhält es sich mit nahezu allen übrigen US-amerikanischen oder deutschen Think Tanks und ihren Publikationen zur Geo- und Außenpolitik. Die fortgesetzte Geltung einer westlich zentrierten Weltordnung ist für diese Institutionen unumstößlich, während zugleich der Abstieg Russlands wie eine Gegebenheit behandelt wird.

Mit anderen Worten, es scheint in der westlichen politischen Planung derzeit keinen „Plan B“ zu geben. Gerade das Fehlen eines solchen könnte die enorme Eskalationsbereitschaft des Westens erklären. Aus irgendeinem Grund hat die politische Elite der USA, aber auch Großbritanniens, Deutschlands und zahlreicher anderer Länder, ihr eigenes politisches Schicksal mit der Durchsetzung einer vom Westen geführten Weltordnung verknüpft. Im Westen scheint man von der Idee beherrscht zu sein, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Regimechange in Moskau und damit zu einer Restauration westlicher Macht führen könnte. Da nun aber die Vorherrschaft des Westens, entgegen den Erwartungen, ins Rutschen geraten ist, kommt es zu den erwähnten hysterischen Reaktionen.

Um zum Kern des Konfliktes vorzudringen, müssen wir daher die Frage beantworten, was eine vom Westen geführte Weltordnung eigentlich ist, warum man diese u.a. auch als unipolare Weltordnung bezeichnet und wie das Gegenkonzept zu ihr aussieht.

Charakteristika einer unipolaren Weltordnung

Eine unipolare Weltordnung ist eine globale Ordnung, die derart strukturiert ist, dass nur eine Region auf dem Globus wirklich entwickelt genug ist, um als Machtpol alle Sphären der modernen Welt zu gestalten. In einer unipolaren Weltordnung würde sich z. B. ein Großteil der militärischen Macht in den Händen einer einzigen Supermacht bzw. einer Allianz von Staaten versammeln. Aufgrund dieser Machtkonzentration gäbe es in diesem Fall auch nur eine außenpolitische Norm, die die Außenpolitik aller Länder strukturieren würde. Eine souveräne Außenpolitik würde sozusagen nur vom Zentrum, dem unipolaren Pol, gestaltet werden; der Rest der Welt, also die Peripherie, hätte zu folgen.

Der Machtpol in einer unipolaren Welt würde die Rahmenbedingungen der globalen Wirtschaftsbeziehungen gestalten, etwa indem er eine allgemein als gültig anerkannte Wirtschaftstheorie propagiert und wichtige Institutionen wie die Weltbank, den IWF oder auch große Vermögensgesellschaften kontrolliert. Der Machtpol würde darüber hinaus die Kontrolle über einen signifikanten Anteil der globalen Rohstoffe, über die Handelsrouten zu Land und zur See und über die globale Fakturierung ausüben. Aufgrund dieses wirtschaftlichen Machtmonopols könnte das Wirtschaftswachstum in anderen Weltregionen beeinflusst werden, was die Chancen für die Entstehung eines zweiten Machtzentrums stark verringern würde.

Auch die langfristigen Trends der Technologieentwicklung würden in einer unipolaren Weltordnung nur noch von einem Machtpol aus entworfen und gestaltet werden, der zugleich die Entwicklung und Ausgestaltung des globalen Finanzsystems sowie die Verrechtlichung der Wirtschaftsbeziehungen dominierte.

All dies würde dazu führen, dass das Völkerrecht die Form einer Weltinnenpolitik annehmen würde. Und schließlich wäre in einer unipolaren Weltordnung auch die Entwicklung der Kultur auf das globale Zentrum hin ausgerichtet: Alle maßgeblichen Trends entständen im Zentrum und würden sich von dort aus über die Peripherie ausbreiten. Dies beträfe so unterschiedliche Aspekte wie die Ausgestaltung des Bildungssystems, die Entstehung von Moden, ästhetischen Trends und Stilrichtungen, ja sogar die Frage, in welchem Rahmen anhand welcher Kriterien Künstler und Schriftsteller sowie Wissenschaftler und ihre Theorien internationale Anerkennung erlangen – oder eben nicht. Kurz, alle die Entwicklung der Zivilisation betreffenden Fragen würden in einer unipolaren Weltordnung nur noch von einer Zentralmacht bestimmt werden.

In einer gewissen Weise würde eine unipolare Weltordnung eine Welt erschaffen, in der das Außen bzw. das Andere verschwände. In einer unipolaren Welt gäbe es eben nur noch einen handelnden Machtpol und somit nur noch ein Zivilisationsmodell. Eine unipolare Weltordnung wäre letztlich ein Imperium, dessen Machtbereich erstmals in der Geschichte den gesamten Globus umschlösse: Die Welt würde eine umfassend immanente Struktur annehmen.

Von 1991 bis 2022 – Eine unipolare Weltordnung im Wartestand

Diese Auflistung der Merkmale einer unipolaren Welt wurde bewusst im Konjunktiv geschrieben, um den anmaßenden, ja antihumanistischen Charakter einer solchen Weltordnung klar hervorzuheben. Man muss sich aber vergegenwärtigen, dass seit der Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 bereits eine unipolare Weltordnung in Latenz bestanden hat und viele der gerade aufgezählten Kriterien unsere heutige Welt tatsächlich bereits beschreiben. Der Zustand der letzten drei Jahrzehnte war nicht das Resultat eines natürlichen Entwicklungsprozesses, sondern eher das ungeplante Ergebnis des chaotischen Zusammenbruchs der Sowjetunion, der für fast alle Zeitgenossen überraschend eingetreten ist. Es war also eine schwer absehbare Wendung der Geschichte, die dazu geführt hat, dass die USA sich in den 1990er-Jahren in der Rolle des unipolaren Machtpols der Welt wiedergefunden haben.

Die Folge war, dass die USA in den ersten eineinhalb Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch der UdSSR fast im Alleingang die Ausgestaltung der globalen Politik bestimmen konnten. Sie dominierten alle internationalen Institutionen wie die Weltbank und den IWF sowie viele der international tätigen Stiftungen und ab den 90er-Jahren zunehmend auch viele Nichtregierungsorganisationen, die in vielen Fällen durchaus als halbstaatliche Organisationen angesehen werden können. Schließlich verfügten die USA auch über sehr viel Einfluss in der Sphäre der Kultur (Soft Power), insofern in den Vereinigten Staaten entstandene Trends und Moden die Entwicklung der Weltkultur insgesamt formten. Außerdem konnten sie die Standardisierung neuer Technologien wie z. B. des Internets und des Mobiltelefons eigenständig festlegen und für ihren kulturellen Einfluss sowie zur Spionage nutzen.

Man kann deshalb davon sprechen, dass von 1991 bis zur Finanzkrise 2008 eine unipolare Weltordnung im Wartestand existierte. Obgleich die Welt in dieser Zeit bereits eine unipolare Struktur aufwies, fehlten zur vollständigen Durchsetzung der Unipolarität jedoch noch immer entscheidende Kriterien. Die USA waren von ihrer neuen Machtposition allerdings derart beflügelt, dass sie das Risiko falsch einschätzten, das mit der endgültigen Etablierung einer solchen Ordnung verbunden ist. Ab der Amtszeit von Georg W. Bush jun. wurde die unipolare Weltordnung von Seiten der USA offen proklamiert, wobei die Welt in Freund- und Feindstaaten (sog. „Schurkenstaaten“) eingeteilt wurde.

Der ersten Krisenzeichen der latent-unipolaren Weltordnung nach 1991

Die Euphorie währte nur kurz. Es waren vor allem drei Faktoren, die die Rolle der USA als unipolarer Machtpol der Weltpolitik zur allmählichen Erosion brachten:
Zunächst verspielten die USA ab 2003 durch ihr offen imperialistisches Auftreten im Irak ihr weltpolitisches Ansehen. Durch das Zurschaustellen eines offenen Imperialismus entstand in weiten Teilen der arabischen Welt sowie in Lateinamerika und Süd- bzw. Südostasien ein neues Selbstbewusstsein. Die langfristige Unterordnung dieser Länder unter die US-amerikanische Hegemonie wurde immer unwahrscheinlicher.
Als zweiter Faktor kam hinzu, dass ab Mitte der Nullerjahre sich durch den Aufstieg Chinas, Indiens und einer Vielzahl kleinerer Schwellenländer die weltwirtschaftlichen Gewichte zu verschieben begannen. Das Handelsbilanzdefizit der USA offenbarte die Abhängigkeit der amerikanischen Ökonomie von der Finanzwirtschaft, weil der für die Stabilität des Finanzsektors notwendige Produktionssektor über die Jahre abhandengekommen ist. Ab der Finanzkrise 2008 wurden die strukturellen Ungleichgewichte der US-Wirtschaft allgemein sichtbar. Immer offener wurde seither die Rolle des Dollars als Welt- und Reservewährung infrage gestellt.

Den dritten Faktor, der ebenfalls in der zweiten Hälfte der Nullerjahre die unipolare Weltordnung infrage stellte, bildete die Tatsache, dass Russland nach dem Staatszerfall der 90er-Jahre seine Souveränität sowie sein militärisches Potenzial allmählich wiederherzustellen vermochte. Als symbolischer Wendepunkt kann hier Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 angesehen werden, in der die Russische Föderation erstmals seit dem Mauerfall vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine differenzierte Gegenposition bezog.

Als Rechtsnachfolger der Sowjetunion verfügt Russland über ein den USA ebenbürtiges Atomwaffenpotenzial, das einer unipolaren Weltordnung entgegensteht. Denn diese bedarf zu ihrer Realisierung eines Gewaltmonopols und ähnelt in dieser Hinsicht einem Staat, der ebenfalls ohne Gewaltmonopol nicht existieren kann. Die USA dehnten deshalb schon in der Amtszeit Bill Clintons die NATO unter Bruch der zuvor getroffenen Absprachen mit Moskau nach Osten aus und begannen in der Amtszeit von Georg W. Bush jun., zusätzlich noch einen Raketenschild zu entwickeln. Die damit angestrebte Neutralisierung der russischen Zweitschlagskapazität wurde allerdings durch die Entwicklung neuer russischer Raketen vereitelt. Auch wenn bis heute keine offizielle Allianz zwischen Russland und China oder Russland und Indien besteht, so stellt das russische Atomwaffenpotenzial dennoch einen Faktor dar, der den wirtschaftlichen Aufstieg dieser Länder indirekt schützt.

Ab den Nullerjahren trat zu Moskaus Rolle als zweite große Nuklearmacht auch noch seine Rolle als Verkäufer moderner Waffensysteme hinzu. Durch den Verkauf etwa von Luftverteidigungssystemen konnte Moskau den militärischen Handlungsradius der USA massiv einschränken. Ölreiche und souveräne Länder wie der Iran oder Venezuela konnten sich nicht zuletzt durch den Erwerb russischer Waffen vor einem militärischen Vorgehen der USA schützen.

Aufgrund dieser drei Faktoren war unter Intellektuellen spätestens seit der Finanzkrise 2008 vom Ende einer unipolaren Weltordnung die Rede: Kaum ausgerufen, schien sie bereits wieder Geschichte zu sein. Eine Sammlung all der Bücher, Artikel und Essays, die seit Mitte der Nullerjahre auf allen Kontinenten über diese Machtverschiebung geschrieben worden sind, könnte ganze Bibliotheken füllen. (2) Dies wirft natürlich die Frage auf, warum Stoltenberg und seine Mitstreiter heute sogar bereit zu sein scheinen, eine waghalsige Eskalation inklusive Weltkriegsrisiko in Kauf zu nehmen, nur um etwas durchzusetzen, das im Grunde genommen gar nicht durchsetzbar ist. Kennt man in den Büros des US-State Departments sowie in den Fluren der NATO die zahlreichen Analysen etwa nicht, die von der Unmöglichkeit einer unipolaren Weltordnung handeln?

Es ist zwar richtig, dass die russische Souveränität und militärischen Stärke einer der drei Faktoren ist, die eine unipolare Weltordnung unmöglich machen. Kann Russland in der Ukraine seine Einflusszone verteidigen, so wird es damit auch die Souveränität zahlreicher weiterer Länder außerhalb des Westens indirekt mit verteidigt haben. Vor den Augen der Welt käme somit ein Sieg Russlands in der Ukraine der Durchsetzung der multipolaren Weltordnung gleich. Allerdings würde sich damit nur ein Entwicklungsschritt vollziehen, der in den nächsten Jahren ohnehin ansteht. Denn auch die enorme wirtschaftliche Entwicklung Chinas, Indiens, aber auch Brasiliens, des Irans, Indonesiens und zahlreicher weiterer Schwellenländer ist langfristig nicht mehr zu stoppen und wird in jedem Fall zu einer multipolaren Welt führen. Und auch der geistige und politische Aufbruch, der derzeit in weiten Bereichen der südlichen und östlichen Hemisphäre stattfindet und im Zuge dessen auch die Verbrechen des westlichen Imperialismus neu erinnert werden, deutet in diese Richtung und macht eine dauerhafte Zentrierung der Weltordnung auf den Westen unmöglich. (3)

Unipolarität vs. westliche Werte

Historisch betrachtet, ist eine multipolare Weltordnung „die Norm“: Fast über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg bestand die Welt immer aus mehreren Machtpolen. Sogar in den zurückliegenden Jahrhunderten der europäischen Vorherrschaft existierten in Europa selbst immer mehrere Machtzentren, die sich gegenseitig kontrolliert und begrenzt haben. Der Versuch Frankreichs unter Napoleon, ganz Europa mit militärischer Macht zu einen, scheiterte an Russland. Auch der Versuch des „Dritten Reiches“, Europa abermals mit militärischer Macht zu unterwerfen, scheiterte an Moskau. Und selbst der nach dem Zusammenbruch der UdSSR eingeleitete Versuch der USA, ihre Macht von Europa aus auf die gesamte Welt auszudehnen, zerbricht wieder einmal am russischen Widerstand.

Ist es diesem konstanten Muster der Weltgeschichte geschuldet, dass sich die NATO nun förmlich an Russland festgebissen hat und die anderen Faktoren übersieht, die ebenfalls eine unipolare Weltordnung unmöglich machen? Wie dem auch sei, durch den Anbruch einer multipolaren Weltordnung wird die Welt in ein altes Muster zurückfinden. Es besteht kein Grund, diese Wiederkehr einer alten Ordnung als „größtes Risiko von allen“ zu beschreiben, wie es Stoltenberg während der letzten Münchner Sicherheitskonferenz getan hat.

Ganz im Gegenteil: Eine unipolare Weltordnung würde die Macht im globalen Maßstab monopolisieren. Dies wäre eine Entwicklung, die nicht nur den Interessen Russlands, Chinas, Indiens und zahlreicher weiterer Länder der südlichen und östlichen Hemisphäre widerspräche – eine solche Machtkonzentration würde auch im fundamentalen Widerspruch zu den Werten des Westens selbst stehen.

Die westlichen Werte sind aus einer Reihe von Revolutionen hervorgegangen, die mit den Autonomiebestrebungen der italienischen Stadtstaaten der Renaissance begann, sich in der Schweizer Eidgenossenschaft über den Deutschen Bauernkrieg, den Niederländischen Aufstand, die Englische und Amerikanische Revolution fortsetzte und schließlich in der großen Französischen Revolution mündete. (4) Die westlichen Werte sind daher revolutionäre Werte, die mit der Idee einer globalen Machtkonzentration ganz und gar unvereinbar sind. Sie beruhen auf der Möglichkeit einer jederzeit einleitbaren Umkehr bestehender Machtverhältnisse. Sie entsakralisieren die Macht und sind so in der Lage, die Macht auf das Gemeinwohl zu verpflichten. In der Republik wurde diese Idee institutionalisiert. Dabei spielt die Idee der Gewaltenteilung eine entscheidende Rolle, um stabile Machtbalancen zu gewährleisten, Machtmissbrauch sichtbar zu machen und eine verfehlte Politik zu korrigieren.

Dass ausgerechnet der Westen in der nach dem Berliner Mauerfall einsetzenden Epoche die Idee einer unipolaren Weltordnung und damit das Konzept einer globalen Machtkonzentration zur Grundlage seiner Außenpolitik gemacht hat, zeigt, wie weit sich die westliche Welt von ihren geistigen Grundlagen entfernt hat. Natürlich war der Westen immer schon zwischen seiner imperialen und seiner republikanischen Tradition gespalten. Beide existierten oft parallel zueinander, obwohl sich ihre philosophischen Prinzipien gegenseitig ausschlossen. Ein berühmtes Beispiel ist der Sklavenaufstand in Haiti, den mit Waffengewalt niederzuschlagen sich die französische Regierung vergeblich bemühte, obwohl sich die revoltierenden Sklaven auf die Werte der Französischen Revolution beriefen. Durch sein Vorgehen machte Paris deutlich, dass die Werte der Französischen Revolution – nämlich Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – eben nur für die Bürger Frankreichs, aber nicht für die der Kolonien gelten sollten. (5)

Dennoch muss etwas im Westen selbst geschehen sein, dass sich die damals noch bestehende Ambivalenz zwischen Republik und Imperium, welche lange Zeit parallel existieren konnten, in unserer Zeit deutlich zugunsten des Imperialismus in Gestalt einer unipolaren Weltordnung aufgelöst hat. Denn ein Westen, der sich zu seinen politischen Werten bekennen würde, könnte durchaus im Einvernehmen mit Russland und den großen Zivilisationen Asiens eine multipolare Welt anstreben. Eine multipolare Weltordnung würde die Idee der Gewaltenteilung und damit die segensreiche Wirkung von Machtbalancen auf die Welt übertragen; die Konkurrenz der Zivilisationen bliebe erhalten.

Die Konkurrenz der Zivilisationen

Die Konkurrenz der Zivilisationen ist ein wichtiger Faktor für die zukünftige Entwicklung der Menschheit. Gerade weil die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts in einem viel größeren Maßstab als noch im 20. Jahrhundert Eingriffe in die Naturrechte einzelner Personen zulassen, sollte die Konkurrenz der Zivilisationen unbedingt aufrechterhalten bleiben. Als Naturrechte bezeichnet man Rechte, die dem positiven, von einem Staat gesetzten Recht vorausgehen. Diese Rechte existieren „von Natur aus“ und werden selbstverständlich in Anspruch genommen, etwa das Recht der Verfügung über den eigenen Körper, die prinzipiellen Freiheitsrechte des Menschen oder das Recht der Eltern an ihren Kinder.

Technologisch ist es heute möglich, einen Menschen lebenslang zu überwachen, seine digitalen Spuren dauerhaft zu speichern und auszuwerten und auf dieser Grundlage seinen Zugang zur Gesellschaft individuell zu regulieren und einzuschränken. Dies erlaubt Eingriffe in die Naturrechtsordnung, die zuvor nicht denkbar waren. Die zukünftige Entwicklung der Gentechnik kommt noch hinzu und könnte z. B. das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Autonomie der Person viel drastischer infrage stellen, als jeder Diktator der Vergangenheit es vermochte. Solange Zivilisationen miteinander verglichen werden können, können derartige Fehlentwicklungen einzelner Zivilisation erkannt und namhaft gemacht werden. In einer von verschiedenen Zivilisationen bestimmten Welt könnte keine dieser Zivilisationen über längere Zeit hinweg in die Naturrechte ihrer Bürger eingreifen, ohne in einen strukturellen Nachteil gegenüber den anderen Zivilisationen zu geraten.

In einer unipolaren Welt dagegen würde die Vergleichbarkeit und latente Konkurrenz von Zivilisationen wegfallen. In einer solchen Welt wäre es viel leichter möglich, die Machtimplikationen der modernen Technik umfänglich auszubuchstabieren und die Naturrechte einzuschränken bzw. sogar aufzuheben. Daraus folgt: Wer von einer technokratischen Welt träumt, in der der Mensch der Technik unterworfen wird, kann zur Verwirklichung dieses Zieles nicht umhin, eine unipolare Welt anzustreben. Umgekehrt gilt zugleich: Wer die Freiheit und Würde des Menschen im 21. Jahrhundert geschützt sehen möchte, muss sich für eine multipolare Welt einsetzen. Wir sehen also, dass die beiden Weltordnungskonzepte, Unipolarität und Multipolarität, für unterschiedliche Werteordnungen stehen.

Ein weiterer Nachteil der unipolaren Weltordnung besteht darin, dass diese keinen Raum für die kulturelle Vielfalt der Welt und die Verschiedenheit der in der Geschichte entstandenen Zivilisationen bietet. Da die unipolare Ordnung danach strebt, die Welt nach einem Prinzip zu regieren, muss sie in der kulturellen Vielfalt der Welt zwangsläufig eine Bedrohung sehen und dazu tendieren, die Welt kulturell zu vereinheitlichen. Dies würde aber unweigerlich Widerstände hervorrufen, auf die die unipolare Weltregierung nur mit Propaganda, Manipulation oder Gewalt reagieren kann. Aus diesem Grund wäre eine unipolare Weltordnung nur als globale Diktatur möglich.

Die Befürworter einer unipolaren Weltordnung argumentieren oft, dass nur eine Weltregierung den Krieg abschaffen und den Weltfrieden garantieren könnte. Allerdings hätte dies auch jeder Eroberer der Vergangenheit von sich behaupten können, nach dem Motto: „Wenn ich Euch erst einmal alle erobert habe, dann...“. Es muss andere Wege geben den Weltfrieden zu garantieren, als die Verwirklichung eines globalen Machtmonopols. Denn der Weg dorthin ist mit Blut und Gewalt gepflastert, wie auch kürzlich der Musiker Roger Waters in seiner Ansprache vor der UN zutreffend festgestellt hat. (6)

Es ist zwar richtig, dass auch in einer multipolaren Weltordnung durch die Vielzahl an Akteuren eine Kriegsgefahr besteht. Dem ist aber erstens zu entgegnen, dass die Kriege innerhalb einer multipolaren Weltordnung wahrscheinlich nicht den absoluten Charakter annähmen, den das Streben nach Unipolarität auszeichnet und auf das auch Roger Waters in seiner Ansprache vor der UN verwiesen hat. Und zweitens schützen nicht nur Machtbalancen vor Krieg, sondern auch die Kultur. Das Kulturniveau entscheidet in gewisser Weise über die Friedensfähigkeit einer Gesellschaft. Da das Kulturniveau in einer multipolaren Welt ungleich entwickelter sein könnte als in einer auf Vereinheitlichung ausgerichteten unipolaren Weltordnung, könnte der Frieden in einer multipolaren Weltordnung gleich auf zwei Wegen sichergestellt werden, einerseits durch Machtbalancen und andererseits durch ein möglichst hohes Kulturniveau.

Auch das Argument, dass bestimmte Probleme wie die Regulierung von Massenvernichtungswaffen, der Klimawandel oder die Verhütung von Pandemien nur international gelöst werden könnten, ist nicht zielführend, denn der unipolare Machtpol bzw. die „Weltregierung“ würde ja versuchen, diese internationalen Probleme zur Legitimationsquelle der eigenen Macht umzufunktionieren. Anstelle der Lösung von Problemen wäre deren Zweckentfremdung zu befürchten. Ein unipolarer Machtpol hätte gar kein echtes Interesse an der Lösung internationaler bzw. globaler Probleme, da er diese als Vorwand für seine Machtausübung geradezu benötigt. Hinweise auf eine solche Zweckentfremdung konnte jeder, der in den letzten Jahren die öffentlichen Debatten im Westen mit etwas Distanz verfolgt hat, leicht erkennen. Wer die genannten Probleme wirklich lösen möchte, sollte daher besser Verträge zwischen souveränen Staaten anstreben anstatt eine „Weltregierung“, die über allen stände und somit auch von niemanden mehr kontrolliert werden könnte.

Unipolarität, der Krieg und das politische Scheitern Europas

Es gehört zum Wesen unserer Welt, dass sie aus mehreren sehr großen und alten Zivilisationen besteht. Viele dieser Zivilisationen haben in der Vergangenheit bedeutende Kulturleistungen hervorgebracht, die auch Maßstäbe für die Zukunft der Menschheit aufgerichtet haben. Allerdings sind diese Zivilisationen aus sehr unterschiedlichen Religionen und Philosophien sowie verschiedenen Geschichtsverläufen hervorgegangen. Obwohl sich gemeinsame Werte und Einsichten auffinden lassen, beruhen die gewählten Lösungsansätze oft auf gegenteiligen Prinzipien, zwischen denen ein Kompromiss nicht immer möglich erscheint. So sind z. B. die Schamgrenzen, die Gefühls- und Affektordnungen, das Verhältnis des Einzelnen zur Familie, zur Gesellschaft und zum Staat, das Zeit- und Geschichtsempfinden oder das Verhältnis zur eigenen Subjektivität in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedlich codiert.

Der unipolare Machtpol wiederum kann nicht kulturell neutral sein und würde zwangsläufig die Werteordnung seiner Ursprungskultur – in der heutigen Welt also die der USA – globalisieren. Die anderen Kulturen außerhalb des Machtpols könnten daher kulturell kaum repräsentiert werden. Ihre kulturelle Verschiedenheit würde innerhalb des „Weltstaates“ eine beständige Quelle von Instabilität darstellen, welcher die unipolare Weltordnung mit einer immer stärkeren Homogenisierung begegnen müsste. Ständig müsste zu diesem Zweck Propaganda eingesetzt und Gewalt ausgeübt werden, was wiederum zu neuen Widerständen führen würde. Dieser Mechanismus würde aber genau jene Kulturleistungen unterdrücken, schwächen und eventuell sogar auflösen, deren Wiederaneignung die Menschheit zur Meisterung ihrer Zukunft so sehr bedarf.

Es liegt auf der Hand, dass viele der älteren Zivilisationen ihrer Auflösung in einer unipolaren, von der amerikanischen Konsumkultur geprägten Weltordnung nicht widerstandslos zustimmen können. Der Versuch, eine unipolare Welt zu errichten, muss daher notwendig zu einer Situation führen, in der die Ansprüche einer unipolaren Ordnung und die Ansprüche eines größeren souveränen Staates, der möglicherweise auch einen eigenen Kulturkreis vertritt, miteinander in einen existenziellen Konflikt geraten. In diesem Konflikt wird dann entweder das Konzept einer Weltregierung zusammenbrechen oder aber der betreffende Staat seine Souveränität verlieren. In gewisser Weise ist es jetzt zwischen den USA und Russland zu exakt einem solchen Konflikt gekommen: Da zwischen den USA als Vertreter der unipolaren Weltordnung und Russland als Vertreter der nach Souveränität strebenden Schwellenländer kein Kompromiss möglich ist, droht nun sogar ein Krieg zwischen den beiden ebenbürtigen Nuklearmächten.

Jeder, der mit etwas historischem Wissen sowie Verantwortungsbewusstsein über diese Probleme nachdenkt, muss aus all diesen Gründen die Idee einer unipolaren Welt bzw. einer Weltregierung ablehnen. Da das Konzept der Errichtung einer Weltregierung mit Notwendigkeit auf einen existenziellen Konflikt zwischen Nuklearmächten hinführt, hätte dieses Konzept niemals von den Europäern mit angestrebt werden dürfen. Als ab den Nullerjahren deutlich wurde, dass sich die USA von diesem Plan nicht mehr lösen konnten, hätten die Europäer sich von den USA trennen müssen.

Dass die USA für derartige Machtfantasien überhaupt empfänglich gewesen sind, ist auch der Tatsache geschuldet, dass es sich um ein sehr junges Land handelt, das seit seiner Gründung fast ununterbrochen expandiert ist. Zugleich fehlt es den USA an einschneidenden historischen Erfahrungen, wie sie Europa auf seinem Territorium vielfach erlitten hat, vom Dreißigjährigen Krieg bis hin zu den beiden Weltkriegen. Wer von der Geschichte so verwöhnt worden ist wie die USA, tut sich schwer damit, Reife und Selbstbeschränkung zu erlernen. Es wäre daher die Aufgabe der Europäer gewesen, Weisheit und Weitsicht walten zu lassen und der US-amerikanischen Euphorie der Macht ein Nachdenken über das Gemeinwohl der gesamten Menschheit entgegenzustellen. Ein Nachdenken wohlgemerkt, das im Dialog mit den anderen großen Zivilisationen hätte konzipiert werden müssen.

Wie zu erkennen ist, liegen die Argumente für eine multipolare Weltordnung auf der Hand. Sie hätten auch mühelos in den Außenministerien Deutschlands, Frankreichs oder Italiens entwickelt werden können. Warum dies nicht geschehen ist, warum Europa keinen eigenständigen Weg eingeschlagen hat und sich stattdessen auf eine amerikanische „Grand Strategy“ einließ, die Europa erneut zum Schlachtfeld eines großen Krieges machen kann, ist rätselhaft. Dass von Tausenden von Experten, die in den Außenministerien verschiedensten europäischen Ländern arbeiten, fast niemand als Kritiker und mahnende Stimme öffentlich aufgetreten ist, deutet entweder auf einen enormen Mangel an Verantwortungsbewusstsein hin oder zeigt, dass die Vertreter der Intelligenz aktiv aus diesen Institutionen ausgeschlossen worden sind.

Das Scheitern Europas und die wahre Angst der Eliten

Dass Europa heute, 33 Jahre nach der Wiedervereinigung mit der realen Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert ist, ist Ausdruck eines fundamentalen, in Worten kaum zu beschreibenden Scheiterns der deutschen, französischen und italienischen Außenpolitik. 1989 wurde Europa durch die Umstände der Geschichte gesegnet. Es wurde in Gestalt einer gleichermaßen deutschen wie europäischen Einigung mit der Möglichkeit einer dauerhaften, potenziell für Generationen gebauten Friedensordnung beschenkt. Das heutige Europa jedoch, das sehenden Auges und sogar mit einer gewissen List die Hunde des Krieges auf seinem Kontinent erneut entfesselt, (7) hat sich dieses Geschenks als unwürdig erwiesen. Die außenpolitische Kraft von mindestens zwei Jahrzehnten wurde für ein fragwürdiges Ziel verschwendet.

Die Abtrennung der Ukraine von Russland war ein altes Kriegsziel des deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg, das im erzwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk gewaltsam durchgesetzt wurde. Das „Dritte Reich“ aktivierte dieses Kriegsziel erneut und weitete es noch aus, indem es neben der Aneignung der Ukraine auch noch die Vernichtung eines beträchtlichen Teils aller Russen anstrebte. Denn Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion war offen als rassenideologischer Vernichtungskrieg konzipiert. Es gab in der alten Bundesrepublik und in der DDR, aber auch im wiedervereinigten Deutschland unter Kohl und Schröder noch einen Konsens darüber, dass die alten deutschen Kriegsziele verfehlt waren und daher ein zukünftiger Konflikt mit Russland um die Ukraine unbedingt verhindert werden müsse. Dass dieses Selbstverständnis in den Amtszeiten von Merkel und Scholz seine unbedingte Geltung eingebüßt hat, stellt nichts weniger als eine geistig-moralische Katastrophe für unser Land und für ganz Europa dar.

Zurück zur Aussage des NATO-Generalsekretärs: Jens Stoltenberg ist der Meinung, dass ein russischer Sieg schlimmer wäre als eine fortgesetzte Eskalation, die zu einem realen Weltkrieg mit Milliarden von Toten führen kann. Dass ein solches Vabanquespiel wirklich geplant sein könnte, darauf deuten auch die eingangs zitierten Aussagen zahlreicher Politiker und gut vernetzter Zeitzeugen hin. Welche hintergründige Angst mag Stoltenberg zu seinem Plädoyer für die Eskalation verleitet haben?

Möglicherweise fürchtet er, dass die Irrationalität von 30 Jahren westlicher Außenpolitik ans Licht der Öffentlichkeit gelangen könnte. Dass die Bürger darüber aufgeklärt werden würde, was wirklich in den letzten drei Jahrzehnten versucht worden ist? Nämlich dass die westlichen Politiker eine Weltordnung angestrebt haben, die einerseits notwendig zum Krieg führt? Und andererseits der westlichen Werteordnung von Grund auf widerspricht.

Wird dies jedoch bekannt, so könnte diese Enthüllung der Beginn einer Aufarbeitung werden, die, je weiter sie fortschreitet, sich allmählich in eine zweite Aufklärung verwandeln könnte. Die erste Aufklärung hat die illegitime Macht der Kirche und des Klerus sowie des Adels und der Standesgesellschaft infrage gestellt. Heute leben wir wieder in einer Welt, in der die Macht – ähnlich wie im absolutistischen Frankreich – enorm angewachsen ist, aber im Zuge dieser Expansion ihre Legitimationsgrundlage zunehmend verliert.

Eine zweite Aufklärung müsste heute, nach dem Vorbild der Kritik am Klerus, die Macht der Medien infrage stellen und deren raffinierte psychologische Manipulationstechniken aufdecken. Und nach dem Vorbild der Kritik an Adel und monarchischem Gottesgnadentum müsste heute über die Macht der Oligarchie und die zunehmend von Monopolen beherrschten Weltwirtschaft aufgeklärt werden. Selbstverständlich würde, wenn eine solche zweite Aufklärung begänne, eine Dynamik entstehen, die über eine bloße Reform unseres politischen Systems weit hinausginge. Ist es vielleicht eine solche Entwicklung, die Stoltenberg als „das größte Risiko von allen“ bezeichnet, nämlich die Rückkehr des Westen zu seinen ursprünglichen Werten?

Über den Autor: Hauke Ritz promovierte im Fach Philosophie und publiziert insbesondere zu Themen der Geopolitik und Ideengeschichte. Bücher: „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit“ (2013), „Endspiel Europa“ (2022, zusammen mit Ulrike Guérot).

Weitere Artikel zum Thema:

Die langen Linien der Russophobie (Stefan Korinth, 24.4.2023)
„Wir müssen die Wahrheit sagen“ (Jeffrey Sachs, 26.2.2023)
„Cognitive Warfare“: Die NATO plant den Krieg um die Köpfe (Jonas Tögel, 16.11.2022)
Der Ukraine-Krieg im Lichte des Völkerrechts (Rudolf Brandner, 5.11.2022)
Ein durchtrenntes Europa (Ulrike Guérot und Hauke Ritz, 25.10.2022)
Massenformierung des Weltbewusstseins (Interview mit Hauke Ritz, 18.7.2022)
„Umgekehrter Totalitarismus“ – Sheldon Wolins provozierendes Alterswerk (Ulrich Teusch, 22.4.2022)
Die Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus? (Hauke Ritz, 31.10.2020)

Anmerkungen

(1) Rob Bauer, Chairman of NATO Military Committee, Interview RTP TV channel, 29.01.2023 


(2) Chalmers Johnson, Ein Imperium verfällt: Wann endet das Amerikanische Jahrhundert? München 2001; Peter Scholl-Latour, Weltmacht im Treibsand – Bush gegen die Ayatollahs, Berlin 2004; Emmanuell Todd, Weltmacht USA - Ein Nachruf, München 2003

(3) Vgl.: Hauke Ritz, Geopolitischer Gezeitenwechsel, in: Carsten Gansel (Hg.), Deutschland Russland – Topographie einer literarischen Beziehungsgeschichte, Berlin 2020, S. 427–442

(4) Auch die Russische Revolution von 1917 steht in dieser Reihe, allerdings auf eine besondere Weise, was hier nicht abschließend erörtert werden kann.

(5) Vgl.: Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti – Für eine neue Universalgeschichte, Berlin 2011

(6) “… and the hegemonic march of some empire or other towards unipolar world domination. Please reassure us that that is not your vision for there is no good outcome down that road. That road leads only to disaster, everyone on that road has a red button in their briefcase and the further we go down that road the closer the itchy fingers get to that red button and the closer we all get to Armageddon.” Roger Waters, Address to the United Nations Security Council, New York, 08.02.2023

(7) Vgl.: Ulrike Guerot, Hauke Ritz, Endspiel Europa – Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist und wie wir wieder davon träumen können, Frankfurt a. Main 2022, S. 118ff.

Quelle: Der Krieg gegen die multipolare Welt

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