Welches Schicksal erwartet Osteuropa nach dem Krieg in der Ukraine?

28.02.2024
Aus dem Bulgarischen übersetzt von Janina Schasching

(Der folgende Text stellt die Übersetzung und Niederschrift der Rede von Simeon Milanov dar, die im Rahmen der Konferenz „Zwei Jahre Krieg um die Ukraine – was kommt nach dem Ende der Geschichte?“ veranstaltet vom Suworow Institut am 24.02.2024 in Wien gehalten wurde.)

Es ist eine alte geopolitische Binsenweisheit, dass derjenige, der Osteuropa kontrolliert, auch das eurasische Kernland kontrollieren wird. Dies ist auch der Grund, warum die Angelsachsen nach 1989 die sogenannte „Ostflanke der NATO“ priorisierten und ihren Einfluss und ihre Kräfte in der Region konzentrierten. Dies ermöglichte es ihnen einerseits einen Brückenkopf gegen Russland zu errichten, den sie für ihren Proxy Krieg gegen Moskau nutzten, der 2014 mit dem Maidan in der Ukraine offiziell begann. Andererseits dienen Osteuropa und insbesondere der Balkan als Tor zum Nahen Osten und gewährleisten zusätzlich die Kontrolle über die Lage im östlichen Mittelmeerraum.

Dies ermöglicht es den angelsächsischen Seestreitkräften, Russland sowohl in südlicher, also kaukasischer, Richtung zu bedrohen, als auch auf jede Situation im Nahen Osten zu reagieren und die Region und den „Schiitischen Halbmond“ wie in einer Zange zu halten. Um konkreter zu werden, werde ich an die geografischen und geopolitischen Realien näher herangehen. Bis vor kurzem bedrohte die angelsächsische Kontrolle über den Balkan und die Türkei einerseits, und die Monarchien am Persischen Golf andererseits, sowohl von Norden als auch von Süden her, den „Schiitischen Halbmond“ – Iran, Irak und Libanon, sowohl auch das mit Teheran und Moskau verbündete Syrien. Natürlich haben der Aufstieg Russlands und Chinas sowie der überstürzte und fast panische Abzug der Amerikaner aus Afghanistan den seit langem schwelenden Prozess des Zerfalls der Pax Americana in Gang gesetzt. Darüber hinaus ermöglichte die national orientierte und souveränistische Politik von Recep Tayyip Erdogan der Türkei, obwohl sie Mitglied der NATO blieb, einen erheblichen Teil ihrer Souveränität zurückzugewinnen. Mit dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine sowie der groben Verletzung des Völkerrechts durch die USA und den Westen, die sich im Einfrieren und Raub von 300 Milliarden russischen Vermögenswerten im Westen äußerte, sind die Länder des globalen Südens und vor allem die Monarchien am Persischen Golf zu der Überzeugung gelangt, dass man Washington und seinem System nicht trauen kann.

Und so kommen wir zur heutigen Situation, in der Amerika im Nahen Osten schnell einen Großteil seines Einflusses verloren hat. Heute liegt der eigentliche Limes der Pax Americana an der bulgarisch-türkischen und griechisch-türkischen Grenze. Der langsame, aber stetige Vormarsch der russischen Streitkräfte in der Ukraine führt wiederum dazu, dass sich die NATO von den Grenzen Russlands und dem Kernland entfernt, wodurch das wichtigste geopolitische Ziel der Seestreitkräfte untergraben wird – das Rimland zu kontrollieren, das Kernland entweder isoliert oder unter Kontrolle zu halten und dem entsprechend, die Welt zu regieren. All dies wirft zum ersten Mal seit 1989 die Frage nach dem Schicksal Osteuropas, dieser strategisch wichtigen Region, auf.

1989 kapitulierte M. Gorbatschow in Malta und zog freiwillig die sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa ab. Anekdotisch bezeichnend ist das Beispiel Bulgariens, wo der sowjetische Botschafter den Vertretern der Bulgarischen Kommunistischen Partei, die über die Veränderungen im Jahr 1989 besorgt waren, sagte, dass sie sich von nun an in allen Angelegenheiten an ihre „Partner“ aus den USA wenden sollten. Ein großer Teil der verstorbenen sozialistischen Elite, die ohne den sowjetischen Großen Bruder zurückgeblieben war, wandte sich dem neuen Großen Bruder in der Person Washingtons zu und verwandelte sich mit seinem Segen in die kapitalistische Machtspitze, die immer noch die Region regiert. Als Gegenleistung für das Recht, die osteuropäischen Länder als ihre eigenen Lehen zu behandeln, geben die lokalen Oligarchen dem Hegemonen ihre Vasallentreue und erlauben den Aufbau von NATO-Streitkräften sowie die Infiltration ihrer Heimatländer durch globalistische Netzwerke (z. B das berüchtigte George-Soros-Netzwerk).

Wie wir oben angedeutet haben, verändert sich die Situation heute stark, sowohl in Ostasien als auch im Nahen Osten und vor allem an der Front in der Ukraine. Die Kanonade der russischen Artillerie erzeugt Erschütterungen, die zu spüren sind, - metaphorisch gesehen, hunderte von Kilometern von Awdeewka, Marinka oder Bachmut entfernt. Die eher national orientierten osteuropäischen Eliten, etwa die Ungarns und in geringerem Maße Serbiens und der Slowakei, versuchen so gut wie möglich, diese schwierige Situation auszugleichen. Andererseits nimmt in anderen Ländern wie Polen, dem Baltikum, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Kroatien und anderen der Grad der angelsächsischen Kontrolle zu, nicht zuletzt, weil die lokalen krypto-feudalen Eliten erkennen, dass ihre Position als Neo -Feudale durch den Segen der USA und Großbritanniens, sowie durch deren formelles Festhalten an der liberal-totalitären Ideologie legitimiert wird. Zusammen mit den angelsächsischen strategischen Interessen, eine antirussische Front von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zu errichten und Russland den Weg nach Deutschland und zum Mittelmeer zu versperren, entstand eine zunehmend toxische Symbiose.

Mein Land Bulgarien ist ein großartiges Beispiel dafür. Die rechtsliberale Partei GERB befindet sich in einer Koalition mit ihren vermeintlich formellen Gegnern aus der linksliberalen Koalition „Wir setzten den Wandel fort – Demokratisches Bulgarien“ und den pro-türkischen Liberalen von DPS, obwohl sich die drei Kräfte im Medienraum als Gegner vor den Wahlen positionierten. Die Koalition, von ihren Gründern „Zusammenbau“ genannt, hat mehrmals gegen die bulgarische Verfassung verstoßen und ihre Gründer geben in durchgesickerten Aufzeichnungen offen zu, dass sie alles mit der „Botschaft“ koordinieren – leicht zu erraten mit welcher Botschaft. Obwohl laut Soziologie und in mehr als einer Umfrage 70 Prozent der Bulgaren mit Russland sympathisieren und 85 Prozent nicht wollen, dass Bulgarien in den Ukraine-Krieg verwickelt wird, erhöht das herrschende liberale Regime den Grad der bulgarischen Beteiligung. Darüber hinaus erklärte Premierminister Nikolay Denkov, dass unsere Hilfe für die Ukraine wichtiger sei als der Zustand der bulgarischen Wirtschaft.

Verteidigungsminister Todor Tagarev, ein ehemaliger Mitarbeiter ukrainischer Verteidigungsstrukturen, fordert sogar, dass sich das Land, dessen Bevölkerung zu 70 Prozent aus Russophilen besteht, auf einen Krieg mit Russland vorbereitet.

Im Wesentlichen besteht das Problem für diese Menschen, von denen ein großer Teil aus verschiedenen Gründen im unipolaren Moment, vielleicht irgendwann in den Jahren 1998-1999, erstarrt ist, darin, dass die SVO nicht nur ein Krieg zur Befreiung des Donbass oder für die Sicherheit der russischen Grenzen ist, sondern eine direkte Herausforderung für die nach 1989 geschaffene internationale Ordnung, die ihre Position als herrschende politisch-wirtschaftliche Klasse legitimiert. Dies gilt sowohl für Bulgarien als auch für Länder wie Rumänien und andere in Osteuropa, wiederum mit Ausnahme von Ungarn, der Slowakei und Serbien.

Unabhängig davon, ob die russische Armee dieses oder nächstes Jahr Odessa und die Grenzen zu Moldawien und Rumänien erreichen wird, wird sie in den osteuropäischen Ländern gewaltige Unruhen auslösen. Selbst in Ländern mit traditionell russophober Feindseligkeit wie Polen und Rumänien entwickelt sich eine immer größer werdende Unzufriedenheit mit den liberalen Regimen, und in traditionell russophilen Ländern wie Bulgarien sind Unzufriedenheit und Spannung doppelt so groß. Das bedeutet nicht, dass wir eine Reihe von Revolutionen und Aufständen in osteuropäischen Ländern erleben werden, aber sicherlich werden die SVO und das Erreichen bestimmter, rein geografischer Grenzen durch die russische Armee die Situation in diesen Ländern verändern.

Der zweite Schlüsselprozess für das Schicksal Osteuropas werden die US-Wahlen in diesem Jahr sein, bei denen die Chancen groß sind, dass die konservativen Kräfte um Trump und möglicherweise einen Teil des hinter ihm sitzenden amerikanischen Industriekapitals gegen die demokratischen Globalisten gewinnen werden. Trumps Sieg bedeutet weder den sofortigen Rückzug der NATO aus Osteuropa noch den Austritt der USA aus dieser Organisation, sondern wird die Lage des Bündnisses weiter verschlechtern. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Trump sein Augenmerk auf andere Regionen richten, die für die USA strategisch wichtig sind – vor allem auf den asiatisch-pazifischen Raum. Entsprechend der Lage an der Front in der Ukraine kann sogar durch Sondierungsgespräche begonnen werden, die Situation mit einem siegreichen Russland zu regeln.

In jedem Fall – unabhängig davon, ob die republikanische Administration der USA russische Gebietsgewinne in der Ukraine anerkennen wird oder, wenn auch mit geringerer Intensität, den Stellvertreterkrieg in der ehemaligen Ukrainischen SSR fortsetzt, wird dies zusammen mit dem Verhalten Chinas im Fernen Osten, des Iran im Nahen Osten und den inneramerikanischen Auseinandersetzungen, zu einer weiteren Erosion der Pax Americana führen.

Sowohl der völlige militärische Verlust der Ukraine und der NATO als auch der gemäßigte Verlust jeglicher Verhandlungen zwischen den USA und Russland würden als Katalysator für den Zusammenbruch der Pax Americana wirken und einen schweren Schlag für den Globalismus und die „regelbasierte Ordnung“ (wie das im Westen genannt wird) darstellen. Dies wirft die Frage nach dem Schicksal Osteuropas auf. Ohne den Anspruch zu erheben, ein Prophet zu sein oder auf der Ebene von Weltdenkern und Analysten wie von dem ehrenwerten Prof. Alexander Dugin zu stehen, glaube ich, dass es für Osteuropa drei Optionen gibt.

Option 1: Als letzte Konvulsion des Globalismus und der Pax Americana werden die Angelsachsen ihre ohnehin schon willigen Vasalleneliten in Osteuropa dazu aufstacheln, zum nächsten Kanonenfutter im Krieg gegen Russland zu werden, was zum völligen Zusammenbruch des Abendlandes und einer Wiederholung des Szenarios von 1945 führen könnte, mit einem wahrscheinlichen Erreichen der russischen Streitkräfte der Linie von Warschau bis Ljubljana, und noch größerer Zerstörung mit apokalyptischen Folgen für die gesamte Menschheit, nämlich die thermonukleare Zerstörung von allem und jedem.

Option 2: Die USA können sich aufgrund ihres wachsenden Engagements weltweit, auch in für sie wichtigeren Regionen, sowie ihrer wachsenden Staatsverschuldung, ihres Haushaltsdefizits und ihrer innenpolitischen Probleme schrittweise aus Osteuropa zurückziehen. Die Trump-Regierung könnte einen schrittweisen Abzug der US-Streitkräfte aushandeln und eine Grauzone zwischen der westlichen Welt und Russland schaffen, die die Westukraine, den Balkan, Polen, Ungarn und andere Länder umfassen würde.

Option 3: Rückkehr Osteuropas oder zumindest des orthodoxen Teils davon (Ukraine und Balkan) in die russische Einflusssphäre, wodurch Russland Zugang zu warmen Meeren erhält, der traditionell von russischen Zaren gesucht wurde, sowie strategische Tiefe zwischen den russischen Territorien und dem Westen, was aus militärisch-strategischer Sicht wichtig ist.

Schließlich müssen wir in Erinnerung behalten, dass Russland kurz vor Beginn des Krieges in der Ukraine eine Anfrage an die NATO und die USA richtete, um einen militärischen Rückzug der NATO an die Grenzen von 1997 zu fordern. Niemand hat diese Forderungen Russlands zurückgenommen, und in diesem Sinne ist die militärische Sonderoperation mehr ein Krieg um die künftige Sicherheitsarchitektur Europas als um diese oder jene Provinz der ehemaligen Ukrainischen SSR. Russland hat keine andere Wahl, als immer weiter nach Westen vorzudringen und den Feind von seinen Grenzen zu verdrängen. Darüber hinaus wird Russland in der zukünftigen Welt, in der wir über Makroregionen oder, wenn man so will, über Neo-Imperien sprechen, die mindestens 250 bis 300 Millionen Menschen haben müssen, um autark zu sein. Russland könnte Osteuropa möglicherweise mehr als nur eine Grauzone zwischen Amerika und England brauchen. Es bleibt abzuwarten, ob das Problem mit einem russischen Sieg in der Ukraine und anschließenden Verhandlungen gelöst werden kann oder ob sich der Konflikt leider verschärft.