Vorbild Brexit: Wo könnte ein Briten-Austritt Schule machen?
Die Briten sind mit ihrer ausgeprägten Europa-Skepsis nicht alleine in Europa. Ein Brexit könnte sich auf die politische Landschaft vieler EU-Staaten auswirken - und das Ende der EU in seiner bisherigen Form bedeuten.
Das Nein der Briten zur EU könnte Bestrebungen in anderen Mitgliedstaaten stärken, denselben Weg einzuschlagen. Diese Befürchtung wird in Brüssel offen ausgesprochen: So warnte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker unlängst, ein Briten-Austritt könnte woanders "Lust auf mehr" machen.
Parlamentspräsident Martin Schulz geht hingegen davon aus, dass es nun nicht zu einer Austrittswelle kommt - obwohl schon mehrere EU-kritische oder offen europafeindliche Politiker Referenden in ihren Ländern fordern.
Klar ist, dass sich die EU verändern muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Die Politikwissenschaftlerin Dr. Dr. Isabelle Borucki von der Universität in Trier erklärte im Gespräch mit unserer Redaktion: "Der Brexit sollte ein Signal für Deutschland als wichtigstes Land in der EU sein, um die überfälligen Reformen der EU-Institutionen in die Wege zu leiten. Deutschland hat die Chance, als Zugpferd zu agieren, um das Demokratiedefizit in der EU zu beheben. Auch, um einem möglichen Domino-Effekt vorzubeugen. Deutschland ist nun gefordert, eine mögliche rechtspopulistische Kettenreaktion abzuwenden."
Denn in mehreren Ländern ist ein Referendum möglich oder sogar denkbar.
Ein Überblick über mögliche Volksabstimmungen in den Mitgliedsländern, auch zu anderen EU-Themen.
FRANKREICH:
Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, erneuert regelmäßig ihre Forderung nach einem Referendum über einen Austritt Frankreichs aus der EU. "Wie ich es seit Jahren fordere, brauchen wir jetzt dasselbe Referendum in Frankreich und in den Ländern der EU", schrieb sie am Freitagmorgen auf Twitter.
Eine Volksabstimmung ist jedoch nur mit Zustimmung des Staatspräsidenten möglich. Die EU-Abgeordnete und erbitterte Europa-Gegnerin Le Pen machte ihre Partei bei der Europawahl zur stärksten Kraft in Frankreich. Bruno Le Maire, potenzieller Kandidat der bürgerlichen Rechten für die Präsidentenwahl 2017, fordert auch ein Referendum - um die EU-Verträge zu ändern und die Union zu stärken.
ITALIEN:
Auch wenn einzelne Politiker wie Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega Nord mit Blick auf einen "Ital-Exit" große Sympathien hegen, ist ein solcher Schritt in Italien so gut wie unvorstellbar. Denn die Verfassung verbietet solche Referenden. Und eine denkbare Änderung der Verfassung ist in dem Stiefelstaat mit seinen äußerst schwierigen Mehrheitsverhältnissen kaum möglich.
ÖSTERREICH:
Die rechtspopulistische FPÖ will die weitere Entwicklung genau beobachten, bevor sie sich für ein EU-Referendum auch in Österreich einsetzt. Sollte die EU an ihrer Reformunwilligkeit festhalten und Länder wie die Türkei hereinholen, "dann ist auch für Österreich eine Abstimmung über den weiteren Verbleib in der EU eine politische Zielerklärung", erklärte FPÖ-Chef Heinz-Chrsitian Strache am Freitag.
DÄNEMARK:
Die dänischen Rechtspopulisten hatten im Brexit-Falle ein Referendum über einen EU-Austritt im eigenen Land gefordert. "Dann will ich eine Volksabstimmung haben, um zu klären, ob Dänemark sich so eine Lösung wünscht", sagte der Chef der Dansk Folkeparti, Kristian Thulesen Dahl, jüngst der Zeitung "Jyllands-Posten". "Es geht darum, mehr Selbstbestimmung zurückzugewinnen."
Die liberale Regierungspartei Venstre wehrt sich jedoch genau wie die übrigen Oppositionsparteien gegen diesen Vorschlag. Was die Zusammenarbeit in der EU angeht, sei man nicht skeptisch, sagte Venstre-Sprecher Jakob Ellemann-Jensen. "Es gibt Dinge, in die sich die EU einmischen soll, und Dinge, in die sich die EU nicht einmischen soll."
NIEDERLANDE:
Eine Mehrheit der Niederländer wäre nach Umfragen für eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft. Doch das ist nach heutiger Gesetzeslage unmöglich. Es gibt nur das Instrument eines "ratgebenden" Referendums, Volksabstimmungen dürfen nur über noch nicht-ratifizierte Verträge gehalten werden.
Dennoch forderte der Chef der rechtspopulistischen Partei für die Freiheit, Geert Wilders, nach dem Brexit-Referendum auch für sein Land eine Abstimmung. "Bye bye Brüssel", jubelte er. "Und die Niederlande werden die Nächsten sein!"
TSCHECHIEN:
Das Brexit-Referendum hat die Debatte über einen möglichen "Czexit" entfacht. Ein Ja der Briten zum Austritt würde eine "Welle des Nationalismus und Separatismus" in ganz Europa auslösen, warnte der sozialdemokratische Regierungschef Bohuslav Sobotka. Beobachter befürchten, dass das Thema dann den tschechischen Parlamentswahlkampf 2017 dominieren könnte.
Als schärfster EU-Kritiker gilt Ex-Präsident Vaclav Klaus, der zuletzt beim AfD-Parteitag in Stuttgart auftrat. Anfang Mai scheiterte indes ein Antrag der rechtspopulistischen Morgenröte (Usvit), über ein Austrittsreferendum im Abgeordnetenhaus in Prag zu beraten.
POLEN:
Von Regierungsseite sind derzeit keine Referendums-Initiativen geplant. Die nationalistische Bewegung, als Teil der Partei Kukiz15 auch im Parlament vertreten, sammelt allerdings Unterschriften für eine Volksabstimmung, bei der die Bürger über die Aufnahme von Flüchtlingen entscheiden sollen.
Ob das Referendum durchgeführt wird, ist offen. Sollten die Wähler in der Flüchtlingsfrage das letzte Wort haben, dürfte Polen als Zufluchtsland wegfallen - in Umfragen waren zuletzt mehr als 70 Prozent gegen die Ansiedlung von Flüchtlingen.
UNGARN:
Das Verfassungsgericht in Budapest hat am Dienstag grünes Licht für die Pläne der rechts-konservativen Regierung von Premier Viktor Orban für ein Referendum zu den EU-Flüchtlingsquoten gegeben. Dabei geht es um künftige, nicht um die schon beschlossenen Quoten. Gegen letztere klagt Budapest vor dem Europäischen Gerichtshof. Die Abstimmung ist im Herbst geplant, der Termin noch offen. Die demokratische Opposition kündigte bereits einen Boykott des Referendums an. Damit es gültig ist, müssen daran mindestens 50 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen.
BALTIKUM:
In Estland, Lettland und Litauen findet sich mehr Begeisterung für die EU als in vielen älteren westlichen Mitgliedstaaten. Verschiedene Krisen geben EU-Skeptikern und Rechtspopulisten aber Auftrieb. Einzelne Oppositionsparteien und Einwanderungsgegner fordern etwa Referenden über die Flüchtlingspolitik und die Aufnahme von Migranten. Die Regierungen in Tallinn, Riga und Vilnius beugen sich dem aber bislang nicht.
web.de (24.6.2016)