Die Geopolitik der Energienetze

16.03.2023

Die Ereignisse der letzten Jahre haben die globale Energielandschaft drastisch verändert. Obwohl die Produzenten der wichtigsten Energieressourcen dieselben geblieben sind, haben sich die Marktbedingungen, Lieferketten und Prioritäten geändert. Für Europa ist Erdgas aus Russland politisch "giftig" geworden, was vor dem Hintergrund der grünen Energiewende das Dilemma aufgeworfen hat, Zugang zu erschwinglicher Energie zu erhalten, die zur Unterstützung der eigenen Wirtschaft benötigt wird. Weltweit wächst das Interesse an sauberer Energie, wodurch sich für eine Reihe von Ländern eine Chance ergibt. Außenseiter sind gezwungen, sich durch Protektionismus gegen mögliche Auswirkungen abzuschirmen. Die Risikobewertungen sind jedoch unterschiedlich. Einige sehen den wirtschaftlichen Gewinn als oberste Priorität an, andere räumen politischen Fragen Vorrang ein, was dazu führen kann, dass Umweltbelange, Standards und Verantwortlichkeiten von der Teilnahme an Abkommen oder Allianzen ausgeschlossen werden.

Jason Bordoff und Megan O'Sullivan sind der Meinung, dass sich im Energiesektor wichtige geopolitische Veränderungen vollziehen. Da viele Länder nach sauberer Energie streben, bedeutet der Erfolg auf diesem Gebiet einen größeren geopolitischen Einfluss. Man könnte sagen, dass sich Supermächte der sauberen Energie herausbilden, um den Rest zu dominieren. Es gibt mehrere potenzielle Quellen für diese Dominanz: 1) die Fähigkeit, Standards für saubere Energie zu setzen, und das ist ein subtileres Instrument als direkter politischer Einfluss; 2) die Kontrolle über die Lieferketten jener Elemente, die für saubere Energietechnologie entscheidend sind; 3) die Fähigkeit, Komponenten für die Industrie billig zu produzieren; und 4) die Produktion und der Export von kohlenstoffarmen Brennstoffen oder sauberer Energie selbst.

Im Großen und Ganzen geht es bei der Betrachtung der globalen geopolitischen Landkarte der Energie um Energieerzeugungspunkte, Knotenpunkte und Verbindungsstücke sowie Energieübertragungswege, die Stromnetze oder Pipelines darstellen.

Energienetze sind die Infrastrukturen, die die Energiequelle mit dem Energieverbraucher verbinden und somit ein entscheidendes Element der nationalen und globalen Energiesysteme darstellen. In den letzten hundert Jahren haben sich die Netze (insbesondere Strom und Gas) von lokalen, einfachen Netzen zu komplexen Infrastrukturen entwickelt, die Energie nicht nur innerhalb der Landesgrenzen, sondern auch grenzüberschreitend auf zuverlässige und effiziente Weise übertragen.

In einem Bericht des Oxford Institute for Energy Studies über Energienetze im Zeitalter des Übergangs heißt es: "Angesichts der standardmäßigen Dekarbonisierungsstrategie, die auf der Elektrifizierung basiert, wird erwartet, dass die Stromnetze vielerorts auf der Welt eine zentrale Rolle in der Infrastruktur zukünftiger Energiesysteme spielen werden, die den größten Teil der in der Wirtschaft verbrauchten Energie übertragen und mit anderen Energienetzen wie Heizung, Wasserstoff, Erdgas und Kühlung zusammenwirken. Dazu muss der Strommarkt jedoch so gestaltet werden, dass die Stromflüsse innerhalb der Übertragungsleitungen für die Stromübertragung bleiben. In Ländern wie Europa, in denen die Marktpreise für Strom innerhalb der Länder weitgehend gleich sind und daher nicht die Zwänge des Stromnetzes widerspiegeln, werden die Marktergebnisse häufig durch eine Neuzuweisung der Kapazität konventioneller Kraftwerke und die Steuerung der Nutzung erneuerbarer Energien angepasst. Dies ist nicht nur ein kostspieliger Mechanismus, sondern auch schwierig zu handhaben, da er der Risikoübernahme unterliegt (wenn er marktbasiert ist) oder von der Transparenz der Kraftwerkskosten abhängig ist (wenn er kostenbasiert ist).

Um eine effektive langfristige Planung des Stromnetzes zu gewährleisten, sind geeignete Regulierungsinstrumente erforderlich. Dazu gehört der Einsatz eines marktbasierten Mechanismus für die Beschaffung von Netzdienstleistungen, wo immer dies möglich ist, sowie die Einführung einer größeren zeitlichen und räumlichen Granularität bei der Strompreisgestaltung.

Die Stromverteilungsnetze sind sogar noch wichtiger, weil die Dekarbonisierung von Sektoren wie Wärme und Verkehr eine größere Volatilität von Angebot und Nachfrage und höhere Spitzenwerte in Netzen bedeutet, die traditionell passiv verwaltet wurden. Diese Netze erfordern eine Reihe von Instrumenten wie wirksame regulierte Tarife, flexible Netzanschlussregelungen und lokale Märkte für flexible Dienstleistungen, um Anreize für eine effiziente Nutzung der vorhandenen Anlagen und eine optimale Entwicklung künftiger Kapazitäten zu schaffen."

Folglich ist das Stromnetz einer der vorrangigen Bereiche für die Energieentwicklung in der nahen Zukunft.

Und es gibt eine Reihe von Problemen mit dem Stromnetz in den Entwicklungsländern. In einigen Ländern, in denen diese Netze noch nicht entflochten sind, sind die Verteilerunternehmen sowohl im Netz- als auch im Einzelhandelsgeschäft tätig. Gleichzeitig werden in vielen Entwicklungsländern, wie z.B. in Indien und Tansania, die Endkundentarife subventioniert, die technischen und kommerziellen Energieverluste sind hoch und die Netzgesellschaften sind oft dysfunktional. Dies führt dazu, dass die Stromversorgungsunternehmen finanziell zahlungsunfähig sind. Und das gefährdet den Zugang zur Elektrizität selbst.

Hinzu kommen die wachsende Weltbevölkerung und das Aufkommen neuer Technologien, was ebenfalls zu einem Anstieg des Stromverbrauchs führt. Die Struktur des Energiesektors und seines Verbrauchs kann in verschiedenen Ländern beobachtet werden. In den USA zum Beispiel wird seit einigen Jahren knapp die Hälfte des Stroms mit Erdgas erzeugt, der Rest verteilt sich etwa zu gleichen Teilen auf Kohle, Kernkraft und erneuerbare Energien, vor allem Windkraftanlagen und Solarpaneele. Insgesamt werden etwas mehr als 4.000 TWh pro Jahr produziert (1990 waren es noch dreitausend).

Ein weiterer Rückgang der Nachfrage nach Erdgas in diesem und im nächsten Jahr in Europa hängt auch von alternativen Formen der Stromerzeugung ab. Frankreich, Europas größter Stromexporteur, wurde aufgrund der Einstellung der Stromerzeugung aus Kern- und Wasserkraft für den größten Teil des Jahres 2022 zum Importeur. Ein Neustart im Jahr 2023 könnte den geschätzten Gasbedarf der EU um 80 TWh senken. Die EU-Kommission hat eine ehrgeizige Dringlichkeitsverordnung zur Beschleunigung von Projekten für erneuerbare Energien angekündigt, um 140 TWh Erdgas im Jahr 2023 durch Wind- und Solarenergie zu ersetzen.

Europa geht davon aus, dass die begrenzten Lieferungen von russischem Gas über Turkish Stream und Transgas sowie der teilweise Ersatz von Gas in der Stromerzeugung durch die Wiederherstellung von Wasserkraft, Kernenergie und neuer Wind- und Solarenergie ausreichen würden, um die von der IEA geschätzte Angebots-Nachfrage-Lücke von 300 TWh im Jahr 2023 zu schließen.

Das Ausmaß des Ausbaus der erneuerbaren Energien in der EU ist jedoch uneinheitlich. Spanien, die Niederlande und Griechenland haben zusammen mehr als die Hälfte des gesamten Anstiegs der Wind- und Solarenergieerzeugung in der EU seit 2019 zu verantworten, während Bulgarien, die Tschechische Republik und Rumänien fast keine Wind- und Solarkraftwerke errichtet haben. Ungarn und Polen sind von einer niedrigen Basis ausgegangen, haben aber seitdem einen Anstieg der erneuerbaren Energien verzeichnet.

Die Mitgliedstaaten sind der Aufforderung der EU nachgekommen, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen und die Industrie im Einklang mit den REPowerEU-Zielen zu dekarbonisieren. Unter anderem haben die Tschechische Republik, Polen und die Slowakei Vorschriften gelockert oder neue Projekte angekündigt, um den Einsatz erneuerbarer Energien zu beschleunigen. Viele mittel- und osteuropäische Länder haben außerdem Zeitpläne für den Ausstieg aus der Kohle angekündigt. Deutschland hat sich ehrgeizige Pläne gesetzt, um die Wind- und Solarenergiekapazität bis 2030 fast zu verdreifachen. Dies würde etwa 1.200 GWh pro Tag ergeben, gegenüber durchschnittlich 440 GWh pro Tag aus Wind- und Sonnenenergie im Jahr 2021 (von insgesamt 616 GWh pro Tag aus erneuerbaren Energien). Die Europäische Kommission plant, die Kapazität der erneuerbaren Energien bis 2030 auf 1.236 GW zu erhöhen. Allein durch die Ausweitung der Nutzung von Solar- und Windenergie würden bis 2030 210 TWh/Jahr an Erdgas eingespart, zusätzlich zu den 1.160 TWh/Jahr, die bereits durch Fit for 55-Maßnahmen eingespart werden sollen. Durch das Erreichen der Fit for 55- und REPowerEU-Ziele könnte die EU den Gasverbrauch bis 2027 um 1.550 TWh - das entspricht den russischen Gasimporten in die EU im Jahr 2021 - und bis 2030 um insgesamt 3.100 TWh senken. Ob diese EU- und nationalen Ziele erreicht werden können, ist eine andere Frage.

Zentren und Peripherien

In einer Studie des Deutschen Instituts für Sicherheits- und Außenpolitik heißt es: "Im Falle der Elektrizität unterliegen der Raum und das Netz je nach Standort konkurrierenden Logiken. Innerhalb der EU zum Beispiel gilt für den territorial zusammenhängenden 'Stromraum' Europa das Ordnungsprinzip. Im Gegensatz dazu versuchen die Großmächte in Räumen, die politisch und rechtlich durchlässig für externe Einflüsse sind, die Stromflüsse zu kontrollieren, um politische Macht zu projizieren und zentralisierte oder hierarchisch strukturierte Räume zu schaffen. Wir erleben derzeit Prozesse der Reintegration und Resynchronisation in Regionen wie Zentralasien und dem Südkaukasus, Nordafrika, Süd- und Südostasien - Regionen, die historisch gesehen nur geringfügig miteinander verbunden und infrastrukturell fragmentiert waren. Heute geschieht dies entweder durch Stromverbindungsleitungen wie das Central Asian Power System (CAPS) und die Belt and Road Initiative oder durch die Schaffung von Strommärkten wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU). Der Grad der sozioökonomischen, technischen und regulatorischen sowie infrastrukturellen Konzentration und Integration dieser Regionen ist im Allgemeinen noch gering. Dies erhöht ihre Durchlässigkeit für externe politische Macht und macht sie zu Räumen der Verflechtung und des Wettbewerbs. Der Wettbewerb um normative, technische, wirtschaftliche - und damit geopolitische - Einflusssphären nimmt zu. In der strategisch wichtigen europäisch-asiatischen Kontinentalregion konkurrieren China, Russland, die Türkei und der Iran mit der EU und den Vereinigten Staaten um Einfluss.

Daher rücken scheinbar rein technische Fragen in den Bereich der Politik vor. Die Stromnetzinfrastruktur, insbesondere in Form von integrierten Stromnetzen, prägt die politischen und sozioökonomischen Beziehungen zwischen zwei oder mehr Zentren sowie zwischen den Zentren einerseits und den Peripherien andererseits.

Die Zentren selbst werden hier als infrastrukturell und industriell gesättigte Räume (auch außerhalb des Einflussbereichs eines Landes) definiert, die sich durch eine hohe Dichte an wirtschaftlichen und sozialen Transaktionen, normative und politische Homogenität und eine geringe Durchlässigkeit für externe geopolitische Kräfte auszeichnen. Im Gegensatz dazu ist die Peripherie durch eine unterentwickelte Infrastruktur, eine schwache Industrialisierung, unbeständige sozioökonomische Bedingungen, ein schwaches oder fehlendes politisches Gravitationszentrum, ein hohes Maß an Durchlässigkeit für externe geopolitische Kräfte und starke Zentrifugalkräfte gekennzeichnet.

Nach der Theorie der sozioökonomischen Netzwerke können Zentren und Peripherien auf verschiedene Weise miteinander verbunden sein. Ein Zentrum kann mit mehreren Gebieten an seiner Peripherie verbunden sein. Gleichzeitig können zwei oder mehr Zentren über einen gemeinsamen peripheren Raum miteinander verbunden sein. Es ist auch möglich, dass mehrere Zentren, jedes mit seiner eigenen Peripherie, nebeneinander existieren und nur eine schwache Verbindung zueinander haben. Die verschiedenen Gruppierungen von Zentrum-Peripherie spiegeln unterschiedliche geoökonomische Machtverhältnisse und geopolitische Projektionen wider.

Interkonnektoren sowie Stromnetze und synchrone Stromversorgungssysteme beeinflussen nicht nur die Energiebeziehungen, sondern prägen auch die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie als Vektoren der Verbindung und Integration. Mit seinem Projekt Belt and Road fördert China eine globale Vision der globalen Energiekonnektivität.

Es entstehen neue Gravitationszentren und die Peripherie wird von einem Grenzraum in einen Verbindungsraum verwandelt.

Die kontinentale Zone, die sich von Europa nach Asien erstreckt, weist eine besondere Dynamik auf. Auf der einen Seite gibt es bereits drei internationale Machtbündnisse und Machtzentren, nämlich die der EU, Russlands und Chinas. Andererseits werden neue Verbindungsleitungen und Stromnetze entwickelt, und neue Zentren wie der Iran, die Türkei und Indien werden immer aktiver beim Aufbau einer grenzüberschreitenden Strominfrastruktur. Obwohl sie in unterschiedlicher Tiefe existieren, weisen die Stromintegrationstrends in den drei Makroregionen ähnliche Merkmale auf: Während neue Gravitationszentren entstehen, verwandeln sich die Peripherien von Grenzräumen in Verbundräume. Infolgedessen verschwimmen die Grenzen der alten Räume, während große neue Räume entstehen. Die alte geopolitische Konfrontation zwischen dem kontinentalen Zentrum und der maritimen Peripherie schwächt sich also zusehends ab.

Innerhalb Eurasiens kommt es also zu einer Konsolidierung um bestimmte Energiezentren und zu einer Stärkung oder Schwächung der Zusammenarbeit, je nach politischem Klima.

So versuchen die EU-Länder beispielsweise, einen eigenen geschlossenen Markt zu schaffen, obwohl einige von ihnen immer noch von Stromlieferungen aus Russland abhängig sind. Und obwohl es politische Gründe für die Umstellung auf andere Netze gibt, gibt es eine Reihe von technischen Beschränkungen, die eine schnelle Umstellung erschweren. So erklärten die estnischen Behörden, dass sie sich erst 2025 vom russischen Netz abkoppeln werden.

In einer anderen Region hingegen ist eine Konsolidierung der Interaktion in dieser Richtung zu beobachten. Im Januar 2013 sagte Mohammad-Ali Farahnakian, Berater des iranischen Energieministers für internationale Angelegenheiten, dass ein iranisches Unternehmen die Genehmigung von Russland, Aserbaidschan und dem Iran erhalten habe, an einem Projekt zur Synchronisierung der Stromnetze der drei Länder zu arbeiten. "Nach der endgültigen Genehmigung des Projekts wird die Arbeit an der Synchronisierung der Stromsysteme beginnen", versicherte er. Die Ausarbeitung des Projekts sieht die Untersuchung der wirtschaftlichen, technischen und umweltbezogenen Komponenten vor, sagte er. Die Ergebnisse der Studie und der Entwicklung wurden den jeweiligen Behörden der drei Länder vorgelegt.

Das Projekt CASA-1000, das darauf abzielt, die zentralasiatischen Länder mit Afghanistan und Pakistan zu verbinden und den Handel mit elektrischer Energie nach internationalen Standards zu ermöglichen, ist vielversprechend.