Antrittsrede: Taiwans Präsidentin distanziert sich von China
Tsai Ing-wen [Bild Mitte] ist als erste Präsidentin Taiwans vereidigt. In ihrer mit Spannung erwarteten Antrittsrede bekannte sie sich nicht zu dem Ein-China-Prinzip - obwohl die Regierung in Peking das von ihr gefordert hatte.
Keine Aussage kann manchmal auch ein klares Statement sein: Die neue taiwanische Präsidentin Tsai Ing-wen hat sich in ihrer Antrittsrede in Taipeh nicht für das Ein-China-Prinzip ausgesprochen. Beide Seiten müssten die Last der Geschichte beiseite räumen und positive Gespräche führen, sagte die Politikerin der Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) stattdessen am Freitag.
Damit bekannte sie sich nicht zu dem "Konsens von 1992", wie es die chinesische Regierung in Peking im Vorfeld ihrer Amtsübernahme von ihr gefordert hatte. Mit der Formel erkennen beide Seiten an, dass es nur "ein China" gibt, akzeptieren jedoch unterschiedliche Vorstellungen, was darunter verstanden wird.
China betrachtet Taiwan als Teil seines Territoriums und verfolgt nach wie vor eine Wiedervereinigung. Peking sieht den Inselstaat, der demokratisch regiert wird, als abtrünnige Provinz. Dorthin hatten sich die im Bürgerkrieg unterlegenen Nationalchinesen 1949 vor den siegreichen Kommunisten geflüchtet.
Tsai zeige eine ambivalente Haltung bezüglich der Beziehung zwischen der Volksrepublik und Taiwan, hieß es in einer Mitteilung aus dem Pekinger Büro für Taiwanangelegenheiten. Ihre Erklärung sei unvollständig geblieben, da sie sich nicht zum "Konsens von 1992" bekannte, der die stabilen Beziehungen zwischen beiden Seiten sicherstellen sollte. Eine Unabhängigkeit Taiwans werde Peking weiterhin nicht dulden.
Tsais Vorgänger Ma Ying-jeou von der Kuomintang-Partei, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten durfte, hatte noch einen deutlichen Pro-China-Kurs verfolgt. So hatte er die wirtschaftliche Verflechtung beider Seiten vorangetrieben. Er schloss etwa 20 Verträge mit Regierungsvertretern aus Peking ab, fast 40 Prozent der taiwanischen Exporte gehen heute nach China.
Seine Partei Kuomintang erlebte bei den Wahlen im Januar die schwerste Niederlage ihrer Geschichte, weil vielen Taiwanesen die Annäherung der Regierungspartei an China, das noch immer Raketen auf die Inselrepublik ausgerichtet hat, zu schnell ging. Tsai will den Inselstaat nun wieder unabhängiger machen und den Handel mit anderen südostasiatischen Ländern vorantreiben.
Spiegel online (20.5.2016)