Entscheidung in Aleppo
Viel wird in diesen Tagen über das Wirtschaftszentrum Syriens und die zweitgrößte Stadt des Landes, Aleppo, gesprochen. Trotzdem wird der Hintergrund des Konfliktes um die einst schöne Stadt meist bewußt außen vor gelassen.
Der syrischen Führung gelang es 2011, die türkisch-westlichen Pläne zu durchkreuzen und die Organisation von Protesten unter dem Namen „Vulkan von Aleppo“ durch von außen unterstützte Oppositionsgruppen zu verhindern. Da es hier so gut gelang, Frieden und Stabilität zu erhalten, wurde die Stadt zum Auffangbecken für Zehntausende Syrer, die aus ihren Heimatorten fliehen mußten.
Im Sommer 2012 änderte sich die Situation, als Terroristen mit türkischer Hilfe in Richtung Aleppo vorrückten. Damals wurden die Einwohner der Stadt regelrecht überfallen, als plötzlich Kämpfer in die nordöstlichen Bezirke Aleppos eindrangen. Mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch des Konfliktes hatten damit Krieger aus der türkischen Grenzregion Aleppo erreicht.
Aleppo wurde zu einem Ort des Schreckens. Auf Anweisung Ankaras begannen die sogenannten „moderaten Rebellen“, Polizeibeamte und Zivilisten zu entführen, zu foltern oder zu töten – mit dem Vorwurf, sie hätten sich auf die Seite der Regierung gestellt. Allmählich verwandelte sich die einst friedvolle Stadt zur reinsten Hölle. Auch war Aleppo jetzt zweigeteilt: Die östlichen Bezirke wurden von den Terroristen kontrolliert, die südwestlichen Bereiche der Stadt befanden sich in der Hand der Syrisch-Arabischen Armee.
Theoretisch wäre die Rückeroberung durch die Regierungstruppen nur eine Frage von Wochen oder Monaten gewesen. Aber dies gelang nicht: Die Terroristen hatten den Vorteil, daß die türkisch-syrische Grenze für die Angreifer offenstand, so daß sie von dort versorgt werden konnten. Zudem war die Regierung in Ankara fest dazu entschlossen, Aleppo einzunehmen, da die Stadt eine Schlüsselposition im neo-osmanischen Projekt Recep Tayyip Erdogans einnimmt.
Um die Umsetzung des türkischen Plans zu ermöglichen, unternahmen die sogenannten „Rebellen“ – hauptsächlich Kämpfer der Al-Nusra-Front, des Al-Kaida-Ablegers in Syrien – zahlreiche Angriffe auf Basen der syrischen Sicherheitskräfte und des Militärs, die Aleppo umgeben. Damit sollten diese Truppen daran gehindert werden, in die eigentlichen Kämpfe um Aleppo einzugreifen und die Ordnung in der Stadt wiederherzustellen.
Anschließend attackierten die terroristischen Milizen die Gewerbegebiete der Stadt, insbesondere den historischen Al-Madina-Souk-Markt, der komplett niedergebrannt wurde. Auch andere Wirtschaftszentren wurden gestürmt und über 1.150 Fabriken demontiert und in die Türkei gebracht.
Mit der Teilung Aleppos in zwei Hälften hatten die „Rebellen“ zwei Hauptverkehrsschlagadern vom Osten in den Westen eingerichtet, die sie als Einnahmequelle nutzten. Auf alles, was auf diesen Straßen transportiert wurde, erhoben die Terroristen Zölle. Nur die Einfuhr von Lebensmitteln in die von der Regierung gehaltenen Bezirke war gänzlich verboten. Ein bekanntes Schild an einem der Terror-Übergänge zeigte den Schriftzug: „Keine Einfuhr von Säuglingsmilch“. Obwohl die Belagerung an die drei Millionen Zivilisten betraf, verloren die westlichen Regierungen kein Wort über die humanitäre Katastrophe.
Zusätzlich kappten die selbsternannten „Befreier“ die Strom- und Wasserzufuhr in die von der Regierung kontrollierten Bezirke, was wiederum am meisten die Zivilisten betraf. Trotzdem blieben die Bewohner standhaft angesichts der osmanischen Invasion.
Nachdem alle türkischen Versuche zur Eroberung Aleppos in vier Jahren fruchtlos geblieben waren, ließ Erdogan die militärische Unterstützung für die Terroristen erhöhen und betraute zudem die Al-Nusra-Front mit der Führung. Aber auch sie blieb mit ihren Vorstößen aus verschiedenen Richtungen erfolglos und mußte schwere eigene Verluste hinnehmen.
Die Terroristen suchten die Schuld bei den Zivilisten Aleppos, die sich lieber auf die Seite der Syrisch-Arabischen Armee gestellt hatten. In der Folge wurde die Stadt mit Tausenden Raketen und Gasgranaten bombardiert, wobei mehr als 600 Zivilisten, einschließlich Frauen und Kinder, verwundet oder getötet wurden.
Einer der brutalsten Angriffe galt dem Al-Dabbit-Krankenhaus, dort tötete die sogenannte „Freie Syrische Armee“ im Schulterschluß mit der Al-Nusra-Front 17 Patienten, darunter einen nur wenige Stunden alten Säugling.
Bemerkenswert ist, daß dieser Vergeltungsakt drei Tage, nachdem die saudi-arabisch unterstützte „syrische Opposition“ ihren Boykott der Friedensgespräche in Genf erklärt hatte, stattfand.
Der Führer der Oppositionsgruppe, Riyad Hijab, rief die bewaffneten Kräfte dazu auf, den „Waffenstillstand“ zu ignorieren und die Regierungstruppen weiterhin zu bekämpfen, bis Präsident Baschar al-Assad gestürzt sei. Kurz nach dieser Erklärung hagelten wieder Raketen auf Aleppo nieder. Dazu ließen die „Oppositionellen“ die Lage in Aleppo weiter eskalieren.
Die Offensive der Terroristen begann am 24. April, dem Gedenktag an den Völkermord an den Armeniern durch das Osmanische Reich im Jahre 1915. Ironischerweise liegen authentische Beweise vor, daß die westlichen Staaten mit dem Regime Erdogans unter einer Decke stecken. Der türkische Regierungschef bietet den bewaffneten Widerstandsgruppen logistische, finanzielle und militärische Unterstützung und trägt damit zum Leid der syrischen Zivilbevölkerung bei. Sein Plan ist, der syrischen Regierung die Kontrolle über die zweitgrößte Stadt in dem Land komplett zu entreißen. Diese Gruppen, die in den USA und der EU als „moderate Oppositionsgruppen“ bezeichnet werden, beschriften ihre Raketen mit dem Namen „Enver Pascha“ und schießen diese in Richtung der christlichen Gemeinden ab. Der türkische Kriegsminister Enver Pascha hatte bei der Deportation und Ermordung der Armenier die Hauptrolle gespielt.
Welchen Zweck haben die neuen Angriffe der Terroristen auf die Zivilisten Aleppos? Erstens: den Waffenstillstand zu unterminieren, da er nicht im Interesse Ankaras und Riads ist. Zweitens: die Syrisch-Arabische Armee dazu zu zwingen, gegen die Raketenstellungen vorzugehen, die sich hauptsächlich in Wohngebieten der von den Terroristen kontrollierten Gebiete befinden. Dort haben die Terroristen Zivilisten als Geiseln genommen, um sie am Verlassen der Gegend zu hindern. Wenn die syrischen Regierungstruppen dann die Feindstellungen beschießen und es zu zivilen Opfern kommt, startet die Anti-Assad-Liga eine Kampagne in den Medien.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß solchen Medienkampagnen in der Regel militärische Operationen am Boden folgen. Seit Wochen konzentrieren die anti-syrischen Aktivisten ihre Hetzkampagne in den sozialen Medien auf den Vorwurf, Assad würde die Stadt niederbrennen. Seitdem finden überall auf der Welt Protestaktionen gegen Damaskus statt – auch in Deutschland. Die westlichen Medien beteiligen sich munter an diesem medialen Feldzug, indem sie die Propaganda der radikal-sunnitischen Muslimbruderschaft und der Salafisten weiterverbreiten.
Heute versuchen die USA und Rußland, eine neue Vereinbarung zu treffen, um den Waffenstillstand in Syrien durchzusetzen. Moskau hat kaum ein Interesse an einer Weiterführung der Kämpfe um Aleppo, aber Washington und seine Verbündeten – hauptsächlich die Türkei – wollen dieses Ziel nicht aufgeben.
Ankara wird alles tun, um noch mehr Terroristen aus anderen Ländern für den Kampf in Syrien zu rekrutieren, derzeit hauptsächlich aus Zentralasien und Westchina. Erdogan wird so lange kämpfen lassen, bis sich die Stadt komplett in seiner Hand befindet. Davon träumt er schon seit langer Zeit. Allein deswegen sollte die syrische Regierung sich nicht auf einen Waffenstillstand mit den Terroristen einlassen. Wenn auch die Syrisch-Arabischen Streitkräfte jetzt in der Lage sind, die Terroristen aus Aleppo zu werfen, sind sie es nach einem Waffenstillstand vielleicht nicht mehr. Entweder behält Syrien Aleppo als Ganzes oder verliert die Stadt endgültig.
Deutsches Nachrichtenmagazin ZUERST!, Juni 2016, S. 40-41