Streit um Sanktionen: Muss Russland länger bestraft werden?
Der Konflikt in der Ukraine ist festgefahren. Die Bemühungen um Frieden bringen keinen Erfolg. Ausgerechnet jetzt müssen die EU-Staaten über die Verlängerung der Russland-Sanktionen entscheiden. Ein schwieriges Unterfangen.
Sie haben es mal wieder versucht. Am Montagabend telefonierten Angela Merkel, Petro Poroschenko, Wladimir Putin und François Hollande in Sachen Ukraine. Man habe sich darauf verständigt, dass das Minsker Abkommen "so schnell wie möglich" umgesetzt werden müsse. Zudem hätten sie zu einer Einstellung aller Kämpfe aufgerufen. Wichtig sei auch der sofortige Rückzug schwerer Waffen aus dem Konfliktgebiet, heißt es in einer Erklärung der Bundesregierung. Diplomatische Floskeln.
So bemüht sie auch klingen: Die Beteiligten gingen wie so oft ergebnislos auseinander. Der Minsk-Prozess sei eingefroren, sagte der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin schon nach dem gemeinsamen Krisengipfel in der vorvergangenen Woche. Die Europäische Union setzt dies unter Zugzwang. Denn spätestens beim Gipfel im Juni müssen die Mitgliedsstaaten über eine Verlängerung der im Sommer 2014 verhängten Sanktionen gegen Russland entscheiden. Diese stehen vor dem Aus. Denn es ist unsicherer denn je, ob sich die EU-Staaten einigen können.
Ein Ende der Sanktionen ist an eine vollständige Umsetzung des Minsker Abkommens geknüpft. Dessen Bilanz fällt dürftig aus. Im Herbst sollten eigentlich Wahlen stattfinden, aber nach wie vor gibt es keine Regelung für den zukünftigen Status der Ostukraine. Der Waffenstillstand ist noch immer labil. Nach Angaben der ukrainischen Regierung haben die Separatisten ihre Angriffe wieder verstärkt. Seit gestern seien sieben Soldaten getötet worden, so viele wie seit August nicht mehr an einem Tag. Der stellvertretende OSZE-Missionschef Alexander Hug warnte kürzlich: "Das Risiko bleibt hoch, da beide Seiten zu dicht zueinander stehen." Noch immer befänden sich schwere Waffen in der entmilitarisierten Zone. Durch Minen und Blindgänger sei die Gefahr für die Zivilbevölkerung groß.
"Verletzungen der Separatisten werden ignoriert"
Zuletzt gab es neue Vorwürfe gegen die Separatisten. Menschenrechtsorganisationen beklagen mehr als 4000 Fälle von Folter und Verschleppung in der Ostukraine. Menschen würden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Angeblich gibt es mehr als 80 illegale Haftanstalten. Die Täter gehen meist straffrei aus. Kontrollen sind schwierig, da die Separatisten der OSZE noch immer keinen vollständigen Zutritt gewähren. "Menschenrechtsverletzungen von ukrainischer Seite, die wir dokumentieren, werden in Russland ausführlich weiter verbreitet. Die Verletzungen der Separatisten werden dagegen ignoriert", sagt Tatjana Lokschina, die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch.
Bei dem Telefonat am Montagabend rief der ukrainische Präsident Poroschenko Kreml-Chef Putin erneut dazu auf, die russischen Soldaten abzuziehen. Russland bestreitet bis heute, reguläre Truppen in der Donbass-Region zu haben. Vor zwei Jahren hatten russische Soldaten ohne Hoheitszeichen die ukrainische Halbinsel Krim besetzt. Erst später räumte Putin dies ein. Die EU wirft dem russischen Präsident noch immer vor, seinen Einfluss nicht genügend geltend zu machen und die Separatisten gewähren zu lassen. Weiterhin besteht der Eindruck, Putin habe wenig Interesse daran, dass sich die Situation im Nachbarland ändert. Vor diesem Hintergrund ist ein Stopp der Sanktionen eigentlich wenig gerechtfertigt.
EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini rechnet mit einer Verlängerung der Strafmaßnahmen. Eine Umsetzung des Minsk-Abkommens sei bisher nicht erreicht worden. Für ein Ende der Sanktionen müssen alle 28 EU-Staaten zustimmen. Eine einheitliche Haltung ist jedoch diesmal nicht in Sicht. "Wir merken, dass die Widerstände in der EU gegen eine Verlängerung der Sanktionen gewachsen sind", erklärte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier kürzlich. Frankreichs Nationalversammlung hat schon Ende April für ein Ende der Sanktionen gestimmt. Die Wirkung sei zu klein, der Schaden für die eigene Wirtschaft zu groß, heißt es. Auch in Deutschland mehren sich kritische Stimmen. Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich und NRW-Wirtschaftsminister Garrelt Duin forderten ein Ende der Sanktionen. Laut einer Umfrage sind ein Drittel der Deutschen für ein Ende, ein weiteres Drittel für eine Lockerung der Sanktionen.
Braucht Moskau Anreize?
Das Auswärtige Amt erwägt eine Abmilderung der Strafmaßnahmen, die sich gegen russische Staatsbanken, den Im- und Export von Rüstungsgütern sowie die russische Öl- und Gasindustrie richten. Staaten wie Italien und Ungarn sind gegen eine Verlängerung der Sanktionen. Großbritannien und die baltischen Länder fordern dagegen eine Verschärfung. Lettland, Litauen und Estland hoffen auf eine stärkere Nato-Präsenz. Die USA wollen die Sanktionen nicht lockern. "Wir würden die Chancen verringern, das Minsker Abkommen umzusetzen", sagte der US-Sanktionsbeauftragte Daniel Fried der "FAZ". Ein Wegfall würde den Anreiz für Moskau senken. "Europa hat mit mehr strategischer Entschlossenheit und Kohärenz gehandelt, als viele Skeptiker vorausgesagt haben. Und Europa hat mehr Stärke gezeigt, als viele in Moskau erwartet hatten. Und das war entscheidend."
Die russische Seite bestreitet derweil weiter hartnäckig, dass die Sanktionen das Land treffen. Das Kalkül, der russischen Wirtschaft zu schaden, sei gescheitert, sagte Russlands Finanzminister Anton Siluanow dem Fernsehsender Rossija 24. Die Inflation stabilisiere sich, die Reserven wüchsen wieder an, der Kapitalabfluss sei abgeflaut. Nicht alle in Russland teilen diese Einschätzung. Siluanows Vorgänger Alexej Kudrin sieht die Lage pessimistisch. "Da sich das alte Wirtschaftsmodell leider erschöpft hat und noch kein neues erarbeitet worden ist, werden wir, auch wenn wir die Talsohle durchschritten haben, noch lange dort unten bleiben", sagte er und fordert Reformen.
Gelingt es der EU, sich auf eine gemeinsame Linie zu einigen? Die Außenbeauftragte Mogherini ist trotz der schwierigen Lage zuversichtlich. "Es hat immer schon unterschiedliche Auffassungen zu Teilen unserer Sanktionspolitik gegeben. Das wird wohl auch so bleiben", sagte sie der "Welt". "Aber trotz der Differenzen war Einigkeit immer vorhanden. Wichtig ist, dass wir an dieser Einigkeit festhalten und Entscheidungen gemeinsam treffen."
n-tv.de (24.5.2016)