Wer soll Hegemon im europäischen Großraum sein?
Die wichtigste Frage der Politik ist die Frage nach der Hegemonie. Wer ist der Hegemon? Wer setzt in einem Bund, in einem Zusammenschluß von Staaten, seine Vorstellungen durch? Wer hat die Vorherrschaft, herrscht also, ohne zu regieren, auch dort, wo die nominelle Herrschaft anderen zukommt? Der Hegemon steht typischerweise einem Staatenbund vor. König Philipp II., Vater Alexanders des Großen, herrschte in Makedonien, in den übrigen Staaten des Korinthischen Bundes herrschte er vor, als Hegemon bzw. oberster Befehlshaber konnte er sie in den Krieg gegen die feindlichen Perser führen.
An diesem Muster hat sich bis heute nicht viel geändert. Wo immer sich Staaten zusammenschließen, drückt einer dieser Staaten dem Bund seinen Stempel auf, belebt ihn mit seiner politischen Idee wie die makedonischen Könige den Korinthischen Bund mit ihrem militaristischen Königskult. Wo der Hegemon fehlt, wo der Bund keinen äußeren Feind anerkennt, dort stürzen sich die einzelnen Staaten bald kriegerisch aufeinander.
Der Westfälische Friede machte 1648 dem Dreißigjährigen Krieg ein Ende. Er beendete auch die Hegemonie des römisch-deutschen Kaisers über Europa und läutete die Epoche des zwischenstaatlichen Völkerrechts (Ius Publicum Europaeum) ein. Damals entstanden souveräne europäische Staaten, deren Souveränität vor allem im „ius ad bellum“ bestand, im Recht, sich gegenseitig den Krieg zu erklären. Und davon machten sie auch reichlich Gebrauch. Die folgenden anderthalb Jahrhunderte sollten als Zeit der Kabinettskriege in die Geschichte eingehen. Europa war damals in der Feindschaft seiner Teilstaaten vereint.
Nach der Französischen Revolution machten zwei Staatsmänner den Versuch, Europa wieder hegemonial zu vereinigen. Napoleon krönte sich zum Kaiser der Franzosen und führte für die politische Idee des bürgerlichen Rechts, des Code Civil oder Code Napoléon, einen europäischen Krieg, in dem das Heilige Römische Reich endgültig zerschlagen wurde. Bismarck vereinigte Süd- und Norddeutschland im Zeichen der preußischen Disziplin und schuf ein europäisches System des Gleichgewichts rund um das Deutsche Reich. Aber sowohl Frankreich als auch Deutschland scheiterten mit ihren Hegemonialbestrebungen, ihre politischen Ideen erwiesen sich als schwächer als die Rivalität der europäischen Nationen.
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs skizzierte der Völkerrechtler Carl Schmitt [Bild] eine neue Hegemonialordnung für Europa in seiner Broschüre „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“. Schmitt dachte sich seine europäische Großraumordnung nach dem Vorbild der Monroe-Doktrin, in der die Vereinigten Staaten von Amerika als Hegemon des amerikanischen Kontinents festgeschrieben wurden. Den Hegemon im Großraum nannte er „Reich“: „Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumiger Mächte grundsätzlich ausschließen.“
Mit dem „Reich“ meinte Schmitt das Deutsche Reich, mit den „fremdräumigen Mächten“ in erster Linie die Vereinigten Staaten, die ihren Großraum im Ersten Weltkrieg verlassen hatten und mit ihrer politischen Idee, die Völker auf der ganzen Welt nach amerikanischem Vorbild in einem Tiegel einzuschmelzen, weit nach Europa ausstrahlten. Gegenüber der unipolaren Vorstellung von der Welt, wie sie sich in der manifest destiny, der „offenbarten Bestimmung“ der USA, ausdrückte, forderte Schmitt eine multipolare Ordnung, wie sie für das Deutsche Reich mit seiner aggressiven Rassenideologie natürlich nicht in Frage kam. Doch die Theorie des Sauerländer Völkerrechtlers hat ihre Zeit weit überdauert.
In Schmitts Großraumordnung besteht die Welt aus mehreren Großräumen, die wiederum aus vielen Völkern bestehen. Aber nur das Reich, das den Großraum mit seiner politischen Idee belebt, hat staatliche Funktion, ist souverän, entscheidet über Krieg und Frieden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg prägten die gescheiterten Hegemonialmächte Deutschland und Frankreich das sich vereinigende Europa nur rhetorisch. Katholiken wie Jean Monnet oder Konrad Adenauer verkauften das neue Europa als Erneuerung des Heiligen Römischen Reichs, als Wiedergeburt des Fränkischen Reichs und dergleichen mehr. Aber Hegemon waren die USA, die mit der NATO das politisch entscheidende Bündnis geschaffen hatten. Der amerikanische Präsident, Oberbefehlshaber über die US-Streitkräfte, konnte die europäischen Staaten ebenso auf Rußland als Feind einschwören wie Philipp II. von Makedonien die Korinther und Thraker auf Persien. Der Oberbefehlshaber des strategischen NATO-Kommandos Europa, war stets ein US-amerikanischer General oder Admiral.
Auf die Frage, ob die Europäische Union ein Großraum im Sinne Carl Schmitts sei, antwortete der Publizist und Schmitt-Schüler Günter Maschke vor fünf Jahren im Interview: „Nein. Warum? Es gibt keine Homogenität des Bundes, es gibt keine Einigkeit über den Feind, es gibt kein wirkliches politisches Projekt. ‚Europa’ ist ein System geworden, — und das ist ein entscheidender Punkt —, das Gehorsam fordert, ohne Schutz zu bieten. Das muß scheitern.“ Die EU wird von einem Hegemon dominiert, der außerhalb des Großraums liegt, von einer „fremdräumigen Macht“. Deutschland herrscht nicht vor, es entfaltet mit seiner hohen Wirtschaftskraft allein eine ökonomische Sogwirkung, die es nicht kanalisieren kann, weil es politisch ohnmächtig ist.
Deutschland ist (wirtschafts-)stark genug, um für Kredite an verschuldete Südstaaten zu bürgen. Es ist aber nicht stark genug, um Reformen in diesen Staaten durchzusetzen, geschweige denn, um an der Nichtbeistandsklausel für verschuldete Staaten festzuhalten, wie sie im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgeschrieben war. Deutschland ist stark genug, mit Sozialleistungen illegale Einwanderer anzulocken. Es ist aber zu schwach, um seine Grenzen zu verteidigen oder um diese Einwanderer auf andere EU-Staaten umzuverteilen, geschweige denn, um an Dublin II festzuhalten, demzufolge jenes Land für einen Asylbewerber verantwortlich ist, in dem dieser zuerst registriert worden ist.
Europa spielt sich als Großraum auf, ist aber keiner, weil es keinen eigenen Hegemon hat. Gegen die Entmachtung der Nationalstaaten macht sich neuerdings auf dem gesamten Kontinent Widerstand breit. Nationale Parteien fordern ein „Europa der Vaterländer“, das Staatenbund sein soll statt Bundesstaat. So meinte Charles de Gaulle seine Alternativ-Vision eines einigen Europa, die er auch das „Europa der Staaten“ nannte, ein Europa, befreit von der Hegemonie der USA.
Aber Vorsicht, im Staatenbund kommt die Frage nach der Hegemonie noch dringlicher aufs Tapet als im Bundesstaat. Im Staatenbund fordern die einzelnen Staaten Souveränität, das schließt das Recht auf Krieg und Frieden mit ein. Die Epoche der Nationalstaaten war keine Zeit des Friedens, und die Souveränität ist ein Falke und keine Taube.
Doch der Souveränität muß ein Staat gewachsen sein, er muß wirtschaftsstark sein, schuldenlos, und seine Eliten müssen im Geiste politischer Verantwortung ausgebildet sein. Schwache Staaten können niemals souverän sein, weil die Voraussetzungen dazu fehlen. Sollen sie dennoch das Recht auf Krieg und Frieden haben? Sollen kleine Staaten das Recht haben, auf ihrem Territorium die Truppen raumfremder Mächte stationieren zu lassen? Soll sich etwa Albanien in einem Europa der Vaterländer mit den USA verbünden dürfen? Und wenn nein, wer soll es daran hindern, wenn es doch souverän über sein Schicksal bestimmt?
Die Pax Americana war für Europa eine peinliche Epoche. Sie hat den europäischen Völkern ihre Eigenart genommen und den Kontinent zu einem Anhängsel des westlichen Hegemonen herabgewürdigt. Sie hat die jämmerlichste Klasse von Politikern hervorgebracht, die der Kontinent je gesehen hat. Aber die Pax Americana hat auch siebzig Jahre lang verhindert, daß die europäischen Kernstaaten gegeneinander Krieg führten. Sie hat insbesondere die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich neutralisiert, indem sie Feindschaft gen Osten mobilisierte.
Heute sind diese Kernstaaten entpolitisiert, ihre Regierungen weder dazu in der Lage, die Grenzen nach außen gegen illegale Einwanderung zu verteidigen, noch dazu, die Bürger vor Gewalt im Inneren zu schützen. Sie fordern Gehorsam ohne Schutz. Osteuropäische Staaten wie Ungarn, Tschechien oder die Slowakei sind dazu willens, aber nicht stark genug, um sich zum Hegemon über ganz Europa aufzuschwingen. Die Frage bleibt im Raum, wessen politische Idee auf Europa ausstrahlen soll, wenn das Brüsseler Joch einmal abgeschüttelt ist.
Vielleicht beantwortet sich die Frage, wer das Europa der Vaterländer vereint, ja in Zukunft von selbst. Die Grundzüge einer multipolaren Weltordnung, bestehend aus kulturell abgegrenzten Großräumen, hat Alexander Dugin in seinem Buch „Konflikte der Zukunft. Die Rückkehr der Geopolitik“ eindrucksvoll dargestellt. Wenn die Länder Europas freie Hand haben, ihre Ordnung wiederherzustellen, mag sie plötzlich da sein, die politische Idee, die auf den Kontinent ausstrahlt und ihm neue Gestalt verleiht.