Die liberale Moderne verschlingt sich selbst
Die extreme Synthese dieser Ära, seien es die sexuell zweideutigen Olympischen Spiele, die ethnischen Zusammenstöße in Großbritannien, die täglichen Massaker an Palästinensern durch die 'einzige Demokratie im Nahen Osten', die soziale Zensur usw., lässt sich meiner Meinung nach in zwei grundlegenden Schritten artikulieren.
1) Die liberale Moderne zerstört zunächst systematisch jede Grundlage, jede wesentliche Unterscheidung, jedes Ordnungsprinzip, jede Tradition, jeden Brauch, und zwar im Namen der Freiheit und ihrer eigenen 'überlegenen Aufklärung'. Liberale Kultur (post-aufklärerisch, liberalistisch, relativistisch, individualistisch, 'fortschrittlich')
"wo sie an die Macht kam, [...] zerstörte sie alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Lebensbedingungen. Sie hat die bunten Bande, die in der feudalen Gesellschaft den Menschen an seine natürlichen Vorgesetzten banden, gnadenlos zerrissen und zwischen Mensch und Mensch kein anderes Band als den nackten Zins, die rücksichtslose 'Barzahlung', übrig gelassen. Sie hat das heilige Zittern der religiösen Begeisterung, des ritterlichen Enthusiasmus und der kleinbürgerlichen Sentimentalität im eiskalten Wasser der egoistischen Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde zu einem bloßen Handelswert gemacht und an die Stelle der zahllosen mühsam erworbenen und patentierten Konzessionen die alleinige Freiheit des skrupellosen Handels gesetzt. Mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verbrämten Ausbeutung hat sie die offene, unprätentiöse, direkte und trockene Ausbeutung gesetzt." (Marx, Manifest, Abschnitt I).
Die Haltung von Marx schwankte bezeichnenderweise zwischen dem Bewusstsein der zerstörerischen Dynamik und der Faszination angesichts der revolutionären Macht. Als Marx diese Zeilen schrieb, war diese Ambivalenz durchaus verständlich, denn ein großer Teil der alten Welt verdiente es, begraben zu werden, und das anhaltende soziokulturelle Feuer ersparte die Mühe der Beerdigung.
Aber wie es bei echten Bränden der Fall ist, entzünden sie sich selbst, sobald sie eine bestimmte kritische Masse erreicht haben, und können nicht mehr eingedämmt und reguliert werden (Marx stellte sich den Kommunismus als einen Weg vor, das von der liberalen Moderne entfachte Feuer einzudämmen und zu regulieren, um es in einen für die Menschheit nützlichen Ofen zu verwandeln, aber er unterschätzte das Ausmaß, in dem die Menschheit selbst, jede wesentliche Idee von ihr, auf diese Weise verbrannt wurde).
2) Dann, wenn nach Jahren, Jahrzehnten oder Jahrhunderten das Chaos zu herrschen beginnt, wenn sich jede Kategorie in einen als brillant empfundenen Relativismus aufgelöst hat, wenn sich damit Orientierungslosigkeit, Ausweichmanöver und ein Gefühl der Ungerechtigkeit aufdrängen, wenn jede Ordnung kompromittiert, jede Richtung unverständlich wird, wenn sich die Freiheit in Willkür, die Regeln in Ausnahmen, das Wesen in Zufall verwandelt haben, wenn all dies allmählich zur zweiten Natur und zu einer weit verbreiteten forma mentis geworden ist, dann bricht eine neue Ära des Zwangs, der Sanktionen, der Überwachung und Kontrolle, der Gewalt der konstituierten Macht an, die mit den dunkelsten Momenten des Ancien Regime vergleichbar ist, aber im Gegensatz zu diesem nicht vom Gewicht einer Tradition, sondern von der unerträglichen Leichtigkeit der Willkür angetrieben wird.
Die Willkür bunter Lobbys, anonymer multinationaler Konzerne oder entlegener Oligarchen.
Die Irrationalität der Entscheidungswege, ihre Unlogik, ihre inneren Widersprüche, ihr flexibler Opportunismus machen sie schwer fassbar (und diejenigen, die versuchen, sie zu rationalisieren, werden leicht der 'Verschwörung' bezichtigt).
In diesem Kontext fallen persönliche und kollektive Identitäten auseinander und lassen Generation für Generation Raum für immer distanziertere, unentschlossene, zugleich zerbrechliche und aggressive Verhältnisse.
Der Konflikt, der systematisch durch das Aufeinanderprallen ungeordneter Überzeugungen, wilder Motivationsfragmente, die Reduzierung der ontologischen Grundlage auf psychologische Launen und die Divergenz der gegenseitigen Erwartungen angeheizt wird, schafft das Terrain, auf dem die Akzeptanz von Unterdrückung, Überwachung, Pauschalurteilen und sogar übereilter Gewalt wächst.
Die liberale Moderne verschlingt sich selbst, und wir sind hin- und hergerissen zwischen einem Nahrungsbrei und einem Rest Leben zwischen den Zähnen.
Übersetzung von Robert Steuckers