Geopolitischer Realismus, Multipolarismus und die Aussicht auf Neutralität
Wir hatten bereits Gelegenheit, den entscheidenden inneren Zusammenhang zwischen der Forderung nach der Wiederherstellung der Volkssouveränität und den Bedingungen für die Lebensfähigkeit der Demokratie zu betonen. Die Idee der Volkssouveränität ist auf der Ebene der internationalen Beziehungen mit der Idee der 'Selbstbestimmung der Völker' verbunden: Grundsätzlich hat jedes Volk das Recht, seine eigenen Entwicklungslinien in Übereinstimmung mit seiner eigenen historisch-kulturellen Entwicklung und territorialen Lage zu verfolgen.
Mit dieser Perspektive kollidieren zwei Modelle: das imperialistische Modell und das globalistische Modell. Beide Modelle gehen davon aus, dass sich eine Lebensform allen anderen aufdrängen muss. Im Falle des Imperialismus ist es eine einzige Zivilisation, die anderen aufgezwungen werden soll, im Falle des Globalismus ist es ein einziges Wirtschaftsmodell, das universell aufgezwungen werden soll.
Obwohl sich der Globalismus auf dem Rücken einer liberalen Agenda ausgebreitet hat, die manche naiv mit imperialistischen Spannungen in Verbindung bringen, war der Antrieb für die Globalisierung immer ein autoritärer, der oft durch militärische "moralische Überredungskunst" unterstützt wurde. In der Vergangenheit gingen globalistische und imperialistische Instanzen nahtlos ineinander über. Seit dem Beschuss chinesischer Häfen durch britische Kanonenboote in der Mitte des 19. Jahrhunderts (Opiumkrieg), über südamerikanische Regimewechsel bis hin zur Gegenwart hat der (angelsächsisch geführte) liberal-kapitalistische Westen die erzwungene Öffnung der Märkte anderer Völker gefördert. Das uralte Märchen vom 'gegenseitigen Nutzen des Freihandels' hat dem Westen dazu gedient, wieder einmal das Monopol des Guten und Gerechten für sich zu beanspruchen und damit jede Ausflucht und jede Gewalt zu rechtfertigen ('wir öffnen die Märkte anderer Leute mit dem Bajonett, aber auch wenn sie es nicht wissen, ist es zu ihrem Besten'). Imperialismus und Globalismus sind verwandte Bewegungen, die sich lediglich durch eine andere Rhetorik unterscheiden: Der IMPERIALISMUS präsentiert sich in der Regel im paternalistischen Gewand desjenigen, der die wahre Zivilisation zu denen bringt, denen sie fehlt, während der GLOBALISMUS sich als die Verbreitung eines von Natur aus überlegenen Lebensmodells durch den 'süßen Handel' darstellt.
In der heutigen Welt drehen sich Imperialismus und Globalismus um dasselbe politische Zentrum, nämlich den amerikanischen Nationalstaat, der sich als einziger das Recht auf Selbstbestimmung vorbehält (und in der Tat ratifizieren die USA nicht systematisch Verträge, die sie zu einem Objekt der Einmischung oder Kontrolle machen würden - z. B. den Internationalen Strafgerichtshof).
Die Annahme des Selbstbestimmungsprinzips bedeutet die Annahme einer geopolitischen Vision, die eine MEHRHEITLICHE Perspektive in den internationalen Beziehungen vertritt, bei der davon ausgegangen wird, dass bei Vorhandensein von Machtasymmetrien zwischen verschiedenen Nationen die Existenz einer Vielzahl von Anziehungspolen ('Mächten') dennoch wünschenswert ist. Die Existenz einer Vielzahl von ungefähr gleichwertigen Polen macht die kleineren Mächte, die schwächeren Staaten, weniger erpressbar, da sie zwischen verschiedenen Einflusssphären hin- und herpendeln, sich einer anderen Einflusssphäre annähern können, wenn sich die vorherige Sphäre als zu erdrückend erweist, oder eine neutrale Position zwischen ihnen anstreben können. Multipolarismus ist 'Demokratie' in einem Bereich möglich, in dem sie formal unmöglich ist, nämlich in den Beziehungen zwischen Nationen.
Provinzen eines Imperiums zu sein, oder noch schlimmer, de facto Protektorate eines Imperiums zu sein, wie es bei Italien der Fall ist, hat den einzigen Vorteil, dass die Verantwortung der politischen Klasse reduziert wird (die es sich daher leisten kann, einen Di Maio als Außenminister zu haben - ein Gürteltier könnte auch dazu passen). Allerdings macht diese Positionierung die Bauern perfekt und vollständig entbehrlich, wann immer dies für das kaiserliche Zentrum nützlich ist.
Die Lage Italiens ist heute heikel und äußerst gefährlich. Als ein Land, das strategisch zwischen dem Westen und dem politischen Osten, zwischen dem atlantischen Europa und dem Nahen Osten, zwischen dem Norden und dem Süden der Welt liegt, sind wir den beiden Bedrohungen, die sich in dieser historischen Phase abzeichnen, am meisten ausgesetzt: der Gefahr eines kriegerischen Konflikts und dem Migrationsdruck.
Was ersteres betrifft, so könnte die Situation für Italien jeden Moment ausarten. Der russisch-ukrainische Konflikt, der von den USA und der NATO in unverantwortlicher Weise geschürt wird, kann im Handumdrehen in eine direkte Verwicklung ausarten. Da Italien der amerikanische Flugzeugträger im Mittelmeer ist, würden wir bei einer Eskalation, in die explizit die NATO involviert wäre, an vorderster Front stehen.
Gleichzeitig steht Italien auch an vorderster Front, wenn es um das explosive Problem der Migrationsprozesse geht. Hohe und unkontrollierte Migrationsraten führen systematisch zu sozialem Ungleichgewicht, belasten die Wohlfahrtsstrukturen der Aufnahmeländer, bieten mögliches Futter für die Kriminalität und schaffen eine Schicht von erpressbaren Arbeitskräften, die zu allem bereit sind, was sich nachteilig auf die Löhne auswirkt. Massive Einwanderungen über kurze Zeiträume, die die Integrations- und Stoffwechselkapazitäten der Aufnahmestaaten übersteigen, sind daher sowohl wirtschaftlich als auch kulturell schädlich für die sozialen Systeme, die sie erleiden, und schaffen Bedingungen, unter denen Ausbeutung, Unsicherheit und Erpressung vertikal wachsen.
Bei diesen beiden Themen agiert und äußert sich die italienische Politik (und Information) weit unterhalb des Mindestmaßes an Seriosität. Die Themen werden systematisch so behandelt, als handele es sich in erster Linie um moralische Fragen, die sentimentale Urteile in Frage stellen: Loyalität (atlantisch) oder Brutalität (russisch), die Großzügigkeit des Willkommens oder fremdenfeindlicher Hass, das Wohlwollen der Guten oder die Feindseligkeit der Bösen.
Jeder Versuch, die Frage der nationalen Interessen wieder in den Mittelpunkt zu stellen, wie es in einer Diskussion, in der geopolitischer Realismus vorherrscht, notwendig ist, wird als Egoismus, Engstirnigkeit und Nationalismus abgetan.
Diese virtuelle Existenz in einer selbstgerechten Märchenwelt, die der Realität der Machtverhältnisse und der Konfrontation unabhängiger Interessen fremd ist, ist keine unschuldige Kinderei, sondern ein Ablenkungsmanöver, das dazu beiträgt, unser Land auf der internationalen Bühne machtlos zu machen: ein prädestiniertes Opfer.
Aber sowohl aufgrund seiner geographischen Lage als auch seiner Geschichte könnte Italien natürlich eine Rolle der NEUTRALITÄT anstreben. Italien ist der Sitz des Vatikans, es ist eine der historisch und künstlerisch interessantesten Regionen der Welt und es hat jene geopolitische Mittelstellung, die es zu einem Kandidaten der Wahl für eine Rolle der Blockfreiheit und Äquidistanz in einer multipolaren Welt macht.
Es liegt auf der Hand, dass politischer Realismus in dem mit der Zeit gereiften Kontext auch die Erkenntnis erfordert, dass Italien nicht über eine Loslösung von seinen derzeitigen internationalen Abhängigkeiten verfügt. Vielmehr muss ein Prozess der Autonomisierung eingeleitet werden, der durchaus im Rahmen der unmittelbaren Möglichkeiten des Landes liegt. In dieser historischen Phase wäre der erste unerlässliche Schritt die Förderung von Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine und ein sofortiger Ausstieg aus jeglicher Verwicklung in den aktuellen Konflikt.
Übersetzung von Robert Steuckers