Politischer Platonismus bei Alexander Dugin

14.01.2022

Wir leben in einer Zeit, die die Philosophie scheinbar hinter sich gelassen hat; die Philosophie hat, wie die Poesie und die Religion, keinen Platz in der heutigen öffentlichen Sphäre. Das hat Folgen, auch für die Politik. Der russische Soziologe Alexander Dugin vertritt die Auffassung, dass Politik und Philosophie von Anfang an eng miteinander verbunden waren. Dugin zufolge ist Politik immer gelebte Philosophie; hinter jeder Politik steht eine Philosophie (auch wenn sich der Politiker selbst dessen nicht immer bewusst ist). Wenn sich die Philosophie einer Gesellschaft ändert, ändert sich auch ihre Politik. Die politische Philosophie steht im Mittelpunkt von Dugins kürzlich übersetztem Sammelband Political Platonism, einer Reihe von Texten u.a. über Platon, Traditionalismus, Heidegger und Neuplatonismus.

Dugin sieht in Platon den entscheidenden Philosophen, einen wertvollen Bekannten für das Verständnis von Politik und Geschichte. Unter anderem hat Platon wichtige Strömungen in allen drei abrahamitischen Religionen beeinflusst, darunter die Kabbala, den Ishrak und Plotinus. Platons Dialog Parmenides kann als Ausgangspunkt dienen, um verschiedene politische Philosophien zu beleuchten. Sehen wir das Ganze als das Primäre oder sehen wir die Gesamtheit als das, was sie ausmacht? Dies hat unmittelbare Auswirkungen darauf, wie wir die Demokratie bewerten, die auf dem Einzelnen beruht. Dugin schreibt, dass "genau diese Ablehnung des Einen und die Anerkennung des Vielen das Grunddogma der Gegenwart ist... die Postmoderne stellt eine hypertrophierte, extravagante Version der letzten Hypothesen des Parmenides dar, insbesondere der Achten". Für die Postmodernen gibt es bekanntlich keine "Schweden", sondern nur "Individuen" (wenn überhaupt). Was Dugin auch zeigt, ist eine politische Philosophie mit Konsequenzen. Er hat nichts dagegen, dass das Volk sein Schicksal selbst in die Hand nimmt, aber er unterscheidet zwischen zwei Formen, der Politeia und der Demokratie: Die Politeia ist die Selbstverwaltung der Bürger der Stadt, die sich auf Traditionen und Grundlagen stützt, die Demokratie ist die chaotische Agitation eines rebellischen Pöbels. Der Mob besteht aus Individuen ohne gemeinsame Traditionen (vgl. Günthers Unterscheidung zwischen Volk und Masse, Dugin geht hier nicht auf den ökonomischen Aspekt ein, wo das Volk aus selbstbesitzenden Familien besteht, während die Masse proletarisiert ist).

Die Sichtweise ist einheitlich, das Volk (narod auf Russisch und Volk auf Deutsch) ist für Dugin zentral. Er stellt sie dem Individuum des Liberalismus, der Klasse des Marxismus und der Rasse und/oder dem Staat des Faschismus gegenüber. Unterstützung findet er dabei nicht zuletzt bei Heidegger. Das Volk ist eine organische Realität, eine Gemeinschaft mit Geschichte, Kultur, Solidarität und Kult. Dugin verbindet das Volk mit der Suche nach dem Authentischen und zitiert Heidegger: "Werden wir es noch einmal wagen, Götter zu haben und mit ihnen die Wahrheit des Narod?". Kult und Kultur hängen zusammen: "Kult und Kultur waren schon immer sehr eng miteinander verbunden, und das ist eine Wahrheit, die wir in Dänemark und in der westlichen Welt neu lernen müssen", um den lutherischen Gezeitenwender Christian Langballe zu zitieren.

Besonders lohnenswert ist der längere Text, in dem Dugin über Noomakhia spricht, ein neues Wort, das vom Titanomakhia der griechischen Mythologie inspiriert ist. Es geht um den Kampf zwischen drei Sichtweisen auf die Welt, drei Logoi. Hier verbindet Dugin Nietzsche mit Evola und Bachofen. Wo Nietzsche das Apollinische und das Dionysische beschrieb, bringt Dugin auch das Kybelsche ein. Nietzsches Unterscheidung ist unzureichend, um die moderne Welt zu beschreiben, Evolas Beschreibung des chtonischen und tellurischen ist eine wertvolle Ergänzung. Dugin hat mehrere Bücher darüber geschrieben, wie sich diese drei Arten, die Welt zu erfahren, und ihr Kampf durch die Geschichte ziehen, Political Platonism fasst den Ansatz zusammen. Kybele ist "die große Mutter", als eine der drei Logoi repräsentiert sie laut Dugin die Herrschaft der Titanen, der Menge und der Materie. Und laut Dugin regiert Kybele heute Europa. Materialismus, Hedonismus, Feminismus, Kollektivismus und dergleichen sollten Beispiele dafür sein, wahre Europäer erleben das heutige Europa per Definition als Verfall, sich selbst als Fremde. Es herrscht Kälte und Indo-Europa wird verteufelt und an den Rand gedrängt. Aber auch die moderne Wissenschaft zählt Dugin zu den Chaoten, "die mit dem Chimärenhaftesten, Illusionärsten und Höllischsten in der Welt arbeitet, einer Ansammlung von materiellen Körpern, Atomen und Teilchen". Er berührt auch den chymischen Androgynen, den Eunuchen, der in unserer antimaskulinen Zeit von Bedeutung ist. Der Abschnitt über die drei Logoi und die Noomakhia, ihren Konflikt, in dem derzeit der Kybelianer herrscht, ist definitiv einer der anregendsten und fruchtbarsten Teile des Buches. Dies gilt unabhängig davon, ob man Dugins Schlussfolgerungen voll und ganz teilt; der eine oder andere liberale Leser wird wahrscheinlich bestimmte Aspekte des Kybelianismus positiver bewerten als Dugin. Für Dugin müssen Apollo und Dionysos zurückkehren.

Insgesamt ist dies ein lohnendes Buch und eine gute Einführung in Dugin. Manchmal liegt der Schwerpunkt auf seiner politischen Agenda, denn Dugin ist bekanntlich pro-russisch. Teile des Buches richten sich an russische Leser und geben Hinweise, wie sie von Platon und Heraklit profitieren können. Aber als Philosoph ist Dugin wertvoll, egal ob man pro- oder antirussisch, libertär, marxistisch oder faschistisch ist. Seine Gedanken über die Verbindung zwischen Philosophie und Politik sind lohnend, und seine Beschreibung der verschiedenen Hypothesen in Parmenides spiegelt sogar die postmodernen Interpretationen ehrlich wider. Dies ist vielleicht nicht ganz der Fall bei der Beschreibung von Kybele, wo Dugin sich eindeutig für die traditionellen und indoeuropäischen Logoi einsetzt, die derzeit verdrängt werden. Aber die Perspektive, der historische Konflikt zwischen drei Weltanschauungen, ist trotzdem fruchtbar. Das Gleiche gilt für Dugins ehrgeiziges Projekt, die Fehlentwicklungen des Westens bis zu den philosophischen Anfängen zurückzuverfolgen. Er argumentiert, dass ein bereits von Anfang an zu starker Logozentrismus eine zentrale Rolle spielte (hier liegt übrigens der Keim für eine positivere Sicht auf das nicht-zelluläre Weibliche, was Dugin selbst nicht näher ausführt). Heidegger schlägt auch die Möglichkeit eines "Neuanfangs" vor.

Dugin ist auch explosiv, was zusammen mit seinen oft originellen und neuartigen Ideen die Lektüre zu einem echten Vergnügen macht. Im Political Platonism taucht alles von Dumont und Deleuze bis zu Heidegger, Heraklit und Husserl auf. Guénon wird mit Marx verglichen und die Postmoderne wird sanft, aber bestimmt dekonstruiert. Wenn Sie eine intellektuelle Ader haben, ist es sowohl lohnend als auch unterhaltsam. Dugin ist immer Dugin, mit dem starken Dualismus, dem selbstverständlichen "Russozentrismus" und dem Hang zum apokalyptischen Denken, den dies mit sich bringt. Es bedeutet aber auch, dass er immer ein intelligenter, origineller, relevanter und sachkundiger Gesprächspartner ist. Der politische Platonismus macht da keine Ausnahme; der Leser dürfte bei der Lektüre einige Aha-Erlebnisse und wahrscheinlich eine teilweise neue Perspektive auf das heutige Leben haben.

Bron: https://motpol.nu/oskorei/2019/10/01/politisk-platonism/

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