Wladimir Putin und die Multipolarität
Seit seinem Aufstieg zur russischen Präsidentschaft ist Wladimir Putin aus zwei Gründen in den Fokus der globalen Mainstream-Medien geraten. Erstens diente er als junger Mann im sowjetischen Geheimdienst KGB und war während des Zerfalls der Sowjetunion als Oberst im KGB-Hauptquartier in Dresden, Ostdeutschland, tätig. Das bedeutet, dass der junge russische Staatschef sehr gute Erinnerungen an die Sowjetzeit hat. Zweitens war der junge Wladimir Putin, Absolvent der Rechtswissenschaften und ehemaliger KGB-Offizier, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für kurze Zeit arbeitslos, bis ihn der Bürgermeister von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak, in sein Büro berief, wo er zunächst als Unteroffizier arbeitete und dann stellvertretender Bürgermeister wurde. Diese beiden Erfahrungen waren der Hauptgrund dafür, dass die Aufmerksamkeit der weltweiten Mainstream-Medien auf die schattenhafte, mysteriöse und unverständliche Persönlichkeit des jungen russischen Führers gelenkt wurde.
Nach den Terroranschlägen vom September 2001 besuchte Wladimir Putin als erstes Staatsoberhaupt der Welt die Vereinigten Staaten und traf den damaligen US-Präsidenten George W. Bush. Nach einem kurzen Treffen mit dem jungen russischen Führer sagte Präsident Bush öffentlich: "Ich habe dem Mann in die Augen gesehen. Ich fand ihn sehr aufrichtig und vertrauenswürdig". Vielleicht war der Versuch von Präsident Bush, in die Seele von Wladimir Putin zu blicken, kein geopolitischer Fehler, denn Wladimir Putin hat sich in seinen Entscheidungen und bei der Verteidigung der Interessen Russlands stets als geradlinig und vertrauenswürdig erwiesen.
Dennoch wurde Wladimir Putin nicht nur im politischen Bereich missverstanden und falsch interpretiert, sondern auch im geopolitischen Bereich. Der berühmte russische Fernsehmoderator und globale Medien-Ikone Wladimir Pozner sagte: "In den letzten zwanzig Jahren haben die westlichen Staats- und Regierungschefs Wladimir Putin missverstanden, und folglich war die Art und Weise, wie Wladimir Putin sich selbst darstellte, in diesem Zeitraum das Spiegelbild der westlichen politischen Denkweise.
Wenn wir die Persönlichkeit des russischen Führers aus der geopolitischen Perspektive analysieren, dann erscheint er ohne jeden Zweifel als ein vollkommen pragmatischer Realist, der die "Sicherheit" Russlands stets als seine oberste Priorität ansieht. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft baute Wladimir Putin enge Beziehungen sowohl zu den Vereinigten Staaten als auch zu seinen europäischen Nachbarn auf. Um die Sicherheitsgarantien der Vereinigten Staaten und seiner europäischen Verbündeten zu erhalten, arbeitete Russland mit der NATO zusammen und gründete 2002 den NATO-Russland-Rat (NRC). Die Hauptaufgabe des NATO-Russland-Rates (NRC) war die Konsensbildung, Zusammenarbeit und gegenseitige Konsultation in Sicherheitsfragen. Vielleicht darf diese pragmatische Geste von Wladimir Putin nicht vergessen werden.
Darüber hinaus hat Wladimir Putin seit den ersten Tagen seiner Amtszeit den Vereinigten Staaten und seinen NATO-Verbündeten in Europa immer wieder Russlands sicherheitspolitische Vorstellungen mitgeteilt. Außenpolitikexperten bezeichneten Putins außenpolitischen Pragmatismus als Russlands "Near Abroad"-Ansatz, der bis 2004 wirksam blieb. Russlands Sicherheitsbedenken begannen sich zu vertiefen, als eine große Anzahl postsowjetischer Staaten aus dem Baltikum und Osteuropa der Europäischen Union beitrat. Nichtsdestotrotz hat Russland die Osterweiterung der EU von Anfang an als Sicherheitsdilemma wahrgenommen, so dass Wladimir Putin bei mehreren internationalen Treffen die EU-Osterweiterungspolitik in Frage stellte. Hier können Putins aufkommende Sicherheitsbedenken mit der Analyse des berühmten geopolitischen Autors Tim Marshall gleichgesetzt werden. Marshall zufolge war Russland im Laufe der Geschichte der Gefangene seiner großen und überdehnten flachen Geographie, in der "Sicherheit" immer die Obsession seiner Herrscher blieb.
In ähnlicher Weise wurde die Politik der EU-Osterweiterung, die 2004 begann, zum Hauptinhalt der Debatten und Diskussionen unter den russischen politischen und sicherheitspolitischen Eliten. Insbesondere die russischen Sicherheitseliten waren der Meinung, dass die EU-Osterweiterung darauf abzielt, der NATO den Weg zu den russischen Grenzen zu ebnen. Aus dieser Diskussion ging ein neues Sicherheitsphänomen hervor, die "Einkreisung Russlands", die die russische Außenpolitik in den kommenden Jahren dominieren sollte. Die meisten russischen politischen und sicherheitspolitischen Eliten gaben den Vereinigten Staaten direkt die Schuld an der Amerikanisierung der europäischen Außen- und Verteidigungspolitik. Wenn man die Hintergründe des anhaltenden Konflikts zwischen Russland und der Ukraine verstehen will, muss man sich mit der Transformation der russischen Außenpolitik nach 2004 befassen. Darüber hinaus ist das Jahr 2004 aus zwei wichtigen Gründen wichtig.
Erstens markierte das Jahr 2004 den Beginn der EU-Osterweiterung und damit der Aufrüstung der NATO in der Nähe der russischen Grenzen. Zweitens begannen in denselben Jahren die farbigen Revolutionen im postsowjetischen Raum, angefangen bei der Ukraine, die nach russischer Auffassung von der NATO unterstützt wurden, um russlandfreundliche Regime zu stürzen. Im Zuge der farbigen Revolutionen wurde der Begriff "Sicherheit der russischen Einflusssphäre" zur Hauptbesessenheit der russischen politischen und sicherheitspolitischen Eliten.
Wenn wir in diesem Zusammenhang das geopolitische Denken des russischen Präsidenten überdenken, dann war der Zusammenbruch der Sowjetunion nach Putins Ansicht die größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, die die geopolitische Sicherheit Russlands gefährdete. Vielleicht ist das der Grund, warum Wladimir Putin schon in den ersten Tagen seiner Amtszeit über die Sicherheitsbedenken der Russischen Föderation spekulierte. In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007 hat er die Vereinigten Staaten und ihre europäischen NATO-Verbündeten sogar deutlich vor den roten Linien Russlands gewarnt. Wladimir Putin sagte: "Die Tatsache, dass wir bereit sind, keine NATO-Armee außerhalb des deutschen Territoriums zu stationieren, gibt der Sowjetunion eine feste Sicherheitsgarantie" - wo sind diese Garantien? Aus Putins geopolitischer Sicht haben die Amerikaner und ihre europäischen Verbündeten also die Sicherheitsgarantien für Russland in den Schatten gestellt und verachtet und der NATO erlaubt, Russland einzukreisen, was er als gebrochenes Versprechen ansieht.
Als pragmatischer Realist ist Wladimir Putin der Ansicht, dass Russland, da Amerika und seine europäischen Verbündeten das Versprechen gebrochen haben, das natürliche Recht hat, seine Sicherheit im postsowjetischen Raum zu gewährleisten. Daher waren die Ereignisse wie der Krieg mit Georgien (2008) und die Annexion der Krim (2014) nur die Ruhe vor dem Sturm. Meiner Meinung nach waren diese Ereignisse der Weckruf für die NATO, ihren Expansionismus entlang der russischen Grenzen aufzugeben. Leider wurden diese beiden großen Ereignisse im Westen nicht als große Warnungen verstanden, sondern als russische Aggression und Neoimperialismus, was völlig unlogisch ist.
Nach Putins Ansicht muss der Westen Russland als eigenständigen Pol in der internationalen Ordnung respektieren, zusammen mit anderen aufstrebenden Weltmächten wie China und Indien. Putin zufolge ist der unipolare Moment vorbei und die internationale Rechtsstaatlichkeit kann nur gestärkt und umgesetzt werden, wenn der Westen die "Einflusssphäre" jedes Pols respektiert. Außerdem ist die aufkommende Multipolarität real und der Westen muss diese Tatsache verstehen, wenn er es mit dem internationalen Frieden und der Sicherheit auch nur ein bisschen ernst meint.
Autor
Shahzada Rahim ist der Autor des Buches Beyond Civilization and History (= Jenseits von Zivilisation und Geschichte" und ein geopolitischer Experte. Er fungiert als Chefredakteur des Nachrichtenportals The Eurasian Post.