Prometheismus und Atlantismus

17.08.2022

Am 25. Juli fand in Prag die zweite Konferenz des Forums Freier Nationen Russlands statt (die erste wurde am 8. Mai, ebenfalls in diesem Jahr, in Warschau abgehalten). Zu den Protagonisten des Treffens gehörten der ehemalige ukrainische Außenminister Pavlo Klimkin und der "Premierminister" der Regierung der tschetschenischen Republik Ikheria im Exil (in London) Akhmed Zakayev (von Moskau wiederholt des Terrorismus beschuldigt).

Wie auf der entsprechenden Website (www.freenationsrf.org) zu lesen ist, gehören zu den wichtigsten "Schwerpunktbereichen" des Forums: "De-Imperialisierung und Dekolonisierung; Deputinisierung und Entnazifizierung; Entmilitarisierung und Entnuklearisierung; wirtschaftliche und soziale Veränderungen". Weiter heißt es: "Das Forum der Freien Völker Russlands ist eine Plattform, die kommunale und regionale Führer, Mitglieder der Oppositionsbewegungen der Russischen Föderation, Vertreter nationaler Bewegungen, Aktivisten, die Fachwelt und alle, die sich der Notwendigkeit einer sofortigen Umgestaltung Russlands bewusst sind, zusammenbringt.

Diese Transformation wird mit der Aufteilung des russischen Territoriums in eine Ansammlung unzähliger neuer Staaten gleichgesetzt, deren Unabhängigkeit und Souveränität von der 'internationalen Gemeinschaft' sofort anerkannt werden soll. Darin heißt es: 'Wir appellieren an die UN-Mitgliedsstaaten, den nationalen Übergangsregierungen/-verwaltungen maximale Unterstützung zu gewähren, um die Ziele der Entkolonialisierung und des Friedens zu erreichen. Sowie die offizielle Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität der folgenden Staaten der indigenen Völker und kolonialen Regionen: Tatarstan, Ingria, Baschkortostan, Karelien, Burjatien, Kalmückien, die Baltische Republik (Ostpreußen), Komi, Tscherkassien, Sibirien, die Uralische Republik, Don, Tyva, Kuban, Dagestan, die Pazifische Föderation, die Moskauer Republik, Erzyan Mastor, Sakha, Pomorie, Chuvashia, Chernozern, Mordovia, Povolzhye, Khakassia, Udmurtia, Ingushetia und andere".

Die indigenen Völker dieser Regionen sind eingeladen, sich in Massen an einer Form des friedlichen systematischen Widerstands zu beteiligen. Gleichzeitig wird aber auch die Bildung von territorialen Milizen gefordert, und Vertreter der Ordnungskräfte werden aufgefordert, überzulaufen und sich ihnen anzuschließen.

Diese 'Planung' (wenn auch weiter übertrieben) scheint sich eng an den Vorschlag der so genannten Helsinki-Kommission anzulehnen. Diese Behörde der US-Regierung, die sich für "Menschenrechte und militärische Sicherheit in Europa" einsetzt, hat in der Tat von der "Entkolonialisierung Russlands" als "moralischem und strategischem Imperativ" gesprochen. Das (nicht einmal allzu verschleierte) Ziel besteht genau darin, die 'Nationalismen' auszunutzen, um die Russische Föderation in zehn oder mehr Staaten zu zerlegen [1].

Die Idee, Russland entlang ethnischer Linien aufzuteilen, ist nicht besonders originell. Und sie ist auch kein Produkt der zeitgenössischen Geopolitik. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der polnische Militär Josef Piłsudski ein ideologisches und geopolitisches Projekt an, das den Namen "Prometheanismus" erhielt. Dieses Projekt zielte auf den Aufbau eines Staatenblocks ab (in dem Polen eine wichtige Rolle spielen sollte), der durch seine Lage 'inter maria', d.h. zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, eine Art 'Cordon sanitaire' an Russlands Grenzen bilden sollte. Darüber hinaus sollte die 'prometheische Bewegung' auch das Gewissen der nicht-russischen Völker zunächst des Zarenreiches und dann der UdSSR wecken, um sie vom Joch Moskaus zu befreien [2].

Der Name des Projekts leitet sich natürlich von Prometheus ab, dem Titanen, der, indem er den Menschen das von den Göttern gestohlene Feuer schenkte, die Idee der 'Aufklärung' und des Widerstands gegen die despotische Macht symbolisieren sollte, die nach dieser modernen Interpretation des mythologischen Themas von Zeus repräsentiert wird. Wenn also die von Moskau unterworfenen Völker die neuen Promethei waren, stellte Russland den despotischen olympischen Gott dar. So schrieb Edmund Charaskiewicz (einer von Piłsudskis Hauptmitarbeitern): "Der Schöpfer und die Seele des prometheischen Konzepts war Marschall Piłsudski, der bereits 1904 in einem Memorandum an die japanische Regierung auf die Notwendigkeit hinwies, die zahlreichen nicht-russischen Nationen, die das Becken der Ostsee, des Schwarzen und des Kaspischen Meeres bewohnen, im Kampf gegen Russland einzusetzen, und betonte, dass die polnische Nation aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Freiheitsliebe und ihres kompromisslosen Widerstands gegen die drei Reiche (das deutsche, das russische und das österreichisch-ungarische), die sie zerschlagen hatten, zweifellos eine führende Rolle bei der Emanzipation der von den Russen unterdrückten Nationen spielen sollte" [3]. Und weiter: 'Die Stärke Polens und seine Bedeutung innerhalb der Bestandteile des Russischen Reiches erlaubt es uns, das Ziel zu entwickeln, den russischen Staat von innen heraus durch eben diese Teile zu zerschlagen, indem wir die Länder emanzipieren, die ihm aufgezwungen wurden. Wir sehen darin nicht nur die Erfüllung des kulturellen Kampfes unseres Landes um seine Unabhängigkeit, sondern auch eine Garantie für seine Existenz. Wenn der russische Eroberungswille geschwächt ist, wird er aufhören, ein gefährlicher Feind zu sein" [4].

Bevor wir das geopolitische Projekt selbst analysieren, sollten wir uns daran erinnern, dass die Bedeutung des griechischen Mythos in Wirklichkeit eine ganz andere ist. Wie Claudio Mutti in seinem Buch Testimoni della decadenza (= Zeugen der Dekadenz) den rumänischen Gelehrten Mircea Eliade zitiert, ist Prometheus "weit davon entfernt, ein Wohltäter der Menschheit zu sein, er ist derjenige, der für ihre gegenwärtige Dekadenz verantwortlich ist [...] Für Hesiod erklärt der Mythos des Prometheus das Eindringen des 'Bösen' in die Welt; er stellt letztlich die Rache des Zeus dar"[5]. Folglich scheint die 'polnische' Interpretation des mythologischen Themas das Produkt einer rein modernen 'demokratischen' und 'fortschrittlichen' Vision zu sein, die nichts mit seiner ursprünglichen Bedeutung zu tun hat.

Nun hat Piłsudskis geopolitisches Projekt (das auf die Wiederherstellung des mächtigen polnisch-litauischen Staates abzielte, der an der Wende vom 16. zum 18. Jahrhundert die Hauptrolle in der europäischen Geschichte spielte) mit der Implosion des sozialistischen Blocks und dem Ende des Warschauer Pakts neues Glück erfahren. Die Drei-Meere-Initiative (die während der Obama-Regierung konzipiert und von Donald J. Trump in die Tat umgesetzt wurde) zielt in der Tat einmal mehr darauf ab, einen 'Cordon sanitaire' (unter atlantischer Schirmherrschaft) zwischen Westeuropa und Russland zu errichten, um die beiden Halbgiganten (der eine finanziell-wirtschaftlich, der andere militärisch und reich an natürlichen Ressourcen) zu trennen [6]. Während des siebten Gipfeltreffens der Initiative, das am 20. und 21. Juni 2022 in Riga stattfand, drängte der ukrainische Präsident Volodymyr Zelensky (der per Videokonferenz sprach) auf den Beitritt Kiews zu dem Projekt, während der derzeitige US-Außenminister Antony Blinken die notwendige finanzielle Unterstützung zusicherte.

Was die Ukraine betrifft, so ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die 'prometheische' Idee in den letzten Jahren dank der intellektuellen Arbeit von Olena Semenyaka (Ideologin und Leiterin des internationalen Sekretariats des Nationalen Korps, des politischen Flügels der aserbaidschanischen Bewegung) innerhalb ihrer Grenzen einen beträchtlichen Aufschwung erlebt hat.
Die 2014 nach den Ereignissen des "Euromaidan" gegründete Gruppe, die sich auf Andriy Biletsky beruft (und vom ehemaligen Innenminister und Oligarchen Arsen Avakov geschützt wird, die sich dafür einsetzten, Asow eine Art kulturell-ideologisches Monopol innerhalb der ukrainischen extremen Rechten zu sichern), stellten eine Art echten Paradigmenwechsel dar, verglichen mit der traditionellen Rhetorik von Parteien wie Svoboda und Pravyi Sektor, die, verankert im Erbe des Hardliner-Banderismus, die Träger einer altmodischen Form des staatszentrierten Nationalismus waren.

Der Protagonist des Perspektivwechsels von national/regional zu international (kontinental und global) war Semenyaka. Insbesondere konnte die Ideologin (eine ehemalige Aktivistin des bereits erwähnten Pravyi Sektor), auch dank des Plomin (Flamme)-Verlages, ein dichtes Netz von Verbindungen mit dem Ausland aufbauen, das Azov dazu brachte, Verbindungen mit verschiedenen anderen Bewegungen zu knüpfen, die der Galaxie des Rechtsextremismus zuzuordnen sind, sowohl in Europa als auch in Nordamerika (hier vor allem mit Gruppen, die mit der so genannten 'Alt-Right' verbunden sind).

Der Gedanke von Olena Semenyaka verdient daher eine kurze Erläuterung. Die Autorin einer Dissertation, in der sie das Denken von Ernst Jünger und Martin Heidegger analysierte, und Übersetzerin der Werke von Dominique Venner ins Ukrainische, unterhielt bis 2014 freundschaftliche Beziehungen zu dem russischen Denker Aleksandr Dugin, der früher Mitglied des 'Ukrainischen Traditionalistenclubs' war. Seine geopolitische Perspektive änderte sich radikal mit den bereits erwähnten Ereignissen auf dem Euromaidan". Diese waren, wie er selbst zugibt, weit davon entfernt, eine echte 'Revolution' zu sein (wie sie von der westlichen Propaganda dargestellt werden), sondern weckten den patriotischen Geist und das Bewusstsein der 'offenkundigen Bestimmung' der ukrainischen Nation.

In dem geopolitischen Projekt, dessen Sprecher Semenyaka ist, wird Piłsudskis "prometheische" Vision an die ukrainischen Bedürfnisse angepasst. Die Ukraine wird in der Tat als Vorposten für die 'Rückeroberung' (ein Begriff, den Semenyaka genau auf Spanisch verwendet, Reconquista) Europas vom liberalen Progressivismus dargestellt. Diese 'Reconquista' erfordert jedoch in erster Linie den Aufbau eines Staatenblocks, eines 'Intermariums' (ein weiterer wiederkehrender Begriff im Werk des Ideologen) zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer, das in der Lage ist, den 'Neobolschewismus' des Putinismus zu bremsen.

Semenyaka macht sich insbesondere die Theorien der ukrainischen geopolitischen Schule um Jurij Lypa und Stanislav Dnistrianskyi zu eigen, um das 'offensichtliche Schicksal' des osteuropäischen Landes auf der Grundlage seiner historischen und geografischen Gegebenheiten zu überdenken. Sie konzentriert sich insbesondere auf die Nord-Süd-Polarisierung, die der (in der russischen Kultur grundlegenden) West-Ost-Dichotomie entgegengesetzt werden soll, um die Geographie zum Schlüsselvektor der ukrainischen Identität zu machen. Die Nord-Süd-Achse (in der der nordgermanische Geist mit dem südgriechischen verschmilzt) wäre nach seiner Vorstellung die von der Kiewer Rus' und der Rurik-Dynastie gewählte gewesen, als deren natürliche ethnische Erben sich die ukrainischen Nationalisten sehen.

Semenyaka übernimmt hier die Theorien von Dmytro Dontsov (1883-1973), der allgemein als Vater der ukrainischen Spiritualität gilt. Er betrachtete Russen und Weißrussen als eine Art ethnische Hochstapler (obwohl sie demselben ostslawischen Stamm wie die Ukrainer angehören) und sprach in Bezug auf Russland offen von einer "mongolischen kulturellen Mutation".
Der 'intermarium'-Staatenblock steht in dieser Perspektive in einer Art dritter Position und als Epizentrum des 'Neuen Europa', in dem, in Anlehnung an die archäo-futuristischen Thesen von Guillaume Faye (der allerdings ausdrücklich von 'Eurosiberia' sprach), Innovation und Tradition miteinander verschmelzen. In diesem Raum, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt, werden die nationalen Trennungen durch die Idee des 'Ethnofuturismus' überwunden: eine Art totale Vermischung der slawischen Völker, die ihn bewohnen, was in gewisser Weise dem messianischen Mythos des 'Sarmatien Europas' entspricht, das sich die polnische Aristokratie der bereits erwähnten Polnisch-Litauischen Föderation zu eigen gemacht hat.

So verständlich es auch ist, dass das Projekt der ukrainischen Ideologin wichtige Teile der europäischen antiliberalen Rechten fasziniert, so muss man doch sagen, dass der erwähnte 'intermarium'-Block auf geopolitischer Ebene ohne 'Küsten' (schwer zu überwindende Grenzen) und beträchtliche natürliche Ressourcen keinen wirklichen Wert hat und sich zwangsläufig in die Abhängigkeit des Fernen Westens (der Vereinigten Staaten) begeben muss, um sein Überleben zu sichern.

Folglich lässt sich die asowsche prometheische Idee leicht auf die Rolle eines Zweigs der atlantischen Interessen reduzieren. Letztlich scheint Semenyaka selbst (die mit der Jüngerschen und Heideggerschen Kritik an Titanismus und Gigantismus vertraut sein sollte), indem sie den Prometheanismus als Synonym für den Kampf gegen den neobolschewistischen und liberal-progressiven Doppel-Despotismus verwendet, (wie so viele andere Vertreter des Bereichs, auf den sie sich bezieht) den rein titanischen Charakter der heutigen Gesellschaft zu ignorieren. Um Hesiod zu paraphrasieren, stellt sie die Rückkehr der titanischen Hybris aus dem westlichen Exil dar ("eine dunkle Region am Ende der gewaltigen Erde"), in der sie von den olympischen Göttern gefangen gehalten wurde.

Fussnoten:

[1] Siehe Decolonization of Russia to be discussed at upcoming Helsinki Commission briefing, www.csce.gov.

[2] R. Woytak, The promethean movement in interwar Poland,"East European Quarterly", Bd. XVIII, Nr. 3 (September 1984), S. 273-278.

[3] E. Charaskiewicz, Eine Sammlung von Dokumenten von Lt. Oberst Edmund Charaskiewicz (herausgegeben von A. Grzywacs - M. Kwiecien - G. Mazur), Księgarnia Akademicka, Krakau 2000, S. 56.

[4] Ebd.

[5] C. Mutti, Testimoni della decadenza, L'Arco e la Corte, Bari 2022, S. 11.

[6] C. Mutti, Il cordone sanitario atlantico, “Eurasia. Rivista di studi geopolitici” 4/2017.

Quelle