Polen: die "piastische Idee" und die neue Geopolitik
Es ist traditionell üblich, die polnische Vorstellung von ihrer geopolitischen Mission in zwei Richtungen zu unterteilen: die jagellonische Idee und die piastische Idee. Jede bezieht sich auf zwei Epochen der polnischen Geschichte und zwei Dynastien: die Piasten, die den polnischen Staat gründeten und eine aktive Außenpolitik im Westen (Deutschland, Tschechien und Ungarn) betrieben, und die Jagiellonen, die Polen mit Litauen vereinigten und den Schwerpunkt der polnischen Außenpolitik nach Osten verlagerten.
Die jagellonische Geopolitik sieht Polen als Beschützer der westlichen christlichen Welt vor Russland; Polen als Träger einer Mission zur Förderung der westlichen Zivilisation im Osten. Es ist ein symbolischer Verweis auf die Zeiten der Rzeczpospolita, auf Pilsudskis geopolitisches und ideologisches Erbe (Nationalkonservatismus), auf den Sarmatismus, auf den Adel, auf die Konzepte von 'Inter-Sea' (Intermarium), 'Prometheismus', auf Giedroyc-Meroszewskis ULB (Ukraine, Litauen, Weißrussland). Das ist die heutige Geopolitik Polens.
Im Gegensatz dazu war die piastische Idee immer von einer Betonung der Konfrontation mit dem germanischen Westen geprägt. Das piastische Paradigma war charakteristisch für Roman Dmowski (um Bild, hierunten) und die Nationaldemokraten, Piłsudskis Gegner "auf der Rechten". Die Nationalisten und Nationaldemokraten (Symbol des 'Schwertes der Tapferen') und die Bauernparteien ('Piast Polnische Bauernpartei') griffen logischerweise auf Symbole zurück, die sich auf die alte Piast-Ära bezogen.
Einerseits wurde der Piast zu einem Symbol der Authentizität, des 'Gemeinwesens' (deshalb wurde zu Zeiten der Rzeczpospolita ein Anwärter auf den königlichen Thron Piast genannt und war nicht von fremder Herkunft). Andererseits wurde der Verweis auf das Erbe der Piasten sowohl zu einem Symbol der Verbundenheit mit dem Land als auch zu einer bäuerlichen Dimension, die teilweise im Gegensatz zur 'adeligen' und 'jagellonischen' Dimension des polnischen Nationalismus stand, den die Bauern mit Argwohn betrachteten. Wie der erste Ministerpräsident des unabhängigen Polens, Witos Wincenty (im Bild hierunten), Gründer der Piast-Partei, feststellte, war es nicht verwunderlich, dass die Bauern 1918 über die Wiederherstellung des polnischen Staates besorgt waren, da sie die Rückkehr der alten Feudalordnung befürchteten [1]. Insbesondere wurde Wincenty am Ende des Zweiten Weltkriegs einer der Vizepräsidenten der Krajowa Rada Narodowa, der prosowjetischen Regierung Polens, die 1944 eine weitreichende Landreform durchführte, die die letzten Reste der 'Panchyna' [2] in den polnischen Gebieten beseitigte.
Die polnischen Kommunisten, unter denen - im Gegensatz zu vielen ihrer Komintern-Brüder - der linke Nationalismus traditionell stark war, begannen nach ihrer Machtübernahme, den Sozialismus mit einem 'Panchyna-Gesicht' aufzubauen, nicht nur mit einem polnischen. Die symbolische Bezugnahme auf die piastische und nicht die jagellonische Ära bedeutete einen Appell an das Volk und die Bauern, eine ethnische Verankerung (anstelle des multiethnischen Föderalismus des polnisch-litauischen Commonwealth), aber auch eine antiwestliche Außenpolitik im Block mit der UdSSR, die sogar die Verschiebung der polnischen Grenzen nach Westen als Rückkehr zum 'piastischen Erbe' rechtfertigte.
Dem polnischen Historiker Adam Zamoyski zufolge präsentierte sich das Regime "als eine sozialistische Version des mittelalterlichen Königreichs Piast" [3]. Die symbolische Beschwörung von Piasts Erbe fand auf allen Ebenen statt: von der Betonung in offiziellen Dokumenten, dass das polnische Wappen 'Piasts Adler' ist, bis hin zu Propagandaplakaten, die alte slawische Könige zeigen, die sich auf territoriale Eroberungen im Westen freuen. Die Gründung der Warschauer-Pakt-Organisation als Gegengewicht zum Westen, in der Polen nach der UdSSR die zweite Militärmacht war, kann als Höhepunkt der "piastischen" Geopolitik Polens im 20. Jahrhundert.
Der zeitgenössische offizielle Geschichtsdiskurs in Polen neigt dazu, sowohl den linksnationalistischen Charakter der NDP in den ersten Jahren ihres Bestehens und nach der Rückkehr von Vladislav Gomulka an die Macht 1956 als auch die massive Unterstützung der Bauernreform durch die Kommunisten selbst zu übersehen.
Die Repressionen und die Verstrickung der sowjetischen Staatssicherheitsorgane, die Unzufriedenheit der Massen mit der sowjetischen Militärpatronage, die Entfremdung der marxistischen Ideologie - all dies trägt dazu bei, dass das Erbe und die Erfahrungen der NDP im heutigen Polen verteufelt werden, und es ist zu einem großen Teil die Ursache für den Niedergang der NDP als unverwechselbares 'nationalbolschewistisches' Projekt.
Gleichzeitig bezeugen sowohl die geopolitischen als auch die sozialen und historiographischen Aspekte der Neugestaltung des 'Piastenreichs' in eine sozialistische Hülle überzeugend, dass diese Form in vielerlei Hinsicht der kommunistischen Orthodoxie widersprach und zum Ausdruck der inneren sozialen und politischen Tendenzen Polens wurde, insbesondere derjenigen, die sich gegen Piłsudskis 'jagellonisches' Polen richteten. Dies könnte die Zusammenarbeit mit den Kommunisten von Witos Wincenty oder Bolesław Piasecki, dem Führer der nationalkonservativ-revolutionären Falanga-Bewegung, erklären, der zum Chef der katholischen Vereinigung PAX im neuen Polen wurde [4]. Andere Führer des nationaldemokratischen Lagers, die eine Reihe von Veränderungen im neuen Polen unterstützten, sind der Schriftsteller Wladyslaw Grabski (Sohn des polnischen Premierministers) und Roman Dmowskis Mitarbeiter, der Historiker Stanisław Kozicki.
Ein interessantes und tragisches Beispiel ist das Schicksal einer anderen führenden Persönlichkeit der nationalen Demokratie, Adam Doboszynski (im Bild hieroben). Als kategorischer Gegner des Bolschewismus und des Marxismus kehrte er 1947 nach Polen zurück. Da er das kommunistische Regime nicht akzeptierte, suchte er Verbindungen zum bewaffneten Untergrund und versuchte zu beweisen, dass der kapitalistische Westen den polnischen Nationalisten nicht zu Hilfe kommen würde. Doboszynski lehnte zwar die kommunistische Ideologie ab, lobte aber die Verschiebung der Grenzen in Richtung Westen und die Verstaatlichung von Unternehmen und argumentierte, dass die wirtschaftlichen Veränderungen und insbesondere die Landreform der Kommunisten "einen Schritt in Richtung einer christlichen Ordnung und nicht in Richtung des Marxismus darstellten" [5].
Doboszynsky stellte in seinem unvollendeten Buch Halfway Through fest, dass "weder der Sieg des US-Kapitalismus noch der totalitäre Marxismus der Sowjets" im andauernden Kalten Krieg die Menschheit zur Heilung bringen würde. Im Gegenteil, die rasante Entwicklung der Technologie und der Verfall der religiösen und moralischen Werte kündigten seiner Ansicht nach ein "apokalyptisches Szenario" an, aus dem nach einer Reihe von Kriegen und Katastrophen eine neue Menschheit hervorgehen würde.
Für Polen sah er die Rettung darin, sich auf den Katholizismus zu stützen. Er befürwortete eine intellektuelle (Neo-Thomismus) und spirituelle Erneuerung des Glaubens und den Aufbau eines neuen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systems, das auf christlichen Werten und einer breiten Selbstverwaltung des Volkes beruht. Doboszynski hinterließ jedoch das Vermächtnis, nicht das gesamte Erbe aus den Tagen des Sozialismus zu verwerfen, das zu bewahren, was dem christlichen antikapitalistischen Geist entspricht, und zu versuchen, das sozialistische System von innen heraus zu verändern.
1949 wurde Adam Doboszynski in Warschau hingerichtet. Nach dem Fall des Sozialismus wurde sein Wille nicht erfüllt. Polen hat den Weg der Markttransformation und der 'Schocktherapie' im neoliberalen Geist eingeschlagen.
Die Position und der Lebensweg von Adam D o b o s h i n und einigen anderen polnischen Nationaldemokraten der Nachkriegszeit ähneln denen der russischen Eurasier und Nationalbolschewiken, die ihm zwei Jahrzehnte vorausgingen. Sie waren auch klar gegen die Ideologie des Marxismus, glaubten aber, dass viele antibürgerliche Veränderungen in Sowjetrussland der Sache der nationalen Wiederbelebung dienen könnten. Wie Doboszynski besuchten viele Eurasier und der nationalbolschewistische Ideologe Nikolai Ustryalov (im Bild hierunten) die UdSSR und wetteten auf interne Veränderungen des Systems oder darauf, dass es von patriotischen Gruppen von innen unterwandert würde. Wie Ustryalov bezahlte auch Doboszynski die Rückkehr in seine Heimat mit seinem Leben.
Einerseits kann die Unterdrückung oder Marginalisierung der Anhänger des 'Nationalbolschewismus' im Realsozialismus als Argument für das Scheitern ihrer Projekte und die Unfähigkeit des marxistischen Systems dienen, grundsätzlich in einem neonazistischen Geist wiedergeboren zu werden. Andererseits können wir dieses Phänomen aufgrund seiner Präsenz sowie der "narkotischen" und heterodoxen Merkmale des realen Sozialismus nicht als zufällig oder unwichtig betrachten.
Im polnischen Fall, wo die symbolischen Bezüge der Nationalisten auf die volkstümliche Komponente der PRP-Offiziellen und der bäuerlichen Kräfte auf die Figur des Piast organisch kontinentale Geopolitik, Antibürgerlichkeit, Autochthonie, Authentizität, den Appell an den bäuerlichen Horizont und die slawische volkstümliche Dimension der polnischen Identität verbinden, können wir nicht nur von einem Symbol, sondern auch von einer 'Gestalt des Piasten' sprechen.
Gestalt' wird in diesem Fall im allgemeinsten Sinne dieses germanischen Sprachbegriffs als eine integrale Struktur verstanden, die sich nicht aus ihren Bestandteilen ableitet, sondern ihnen vorausgeht, hinter ihnen steht. Eine Gestalt ist keine künstlich konstruierte Einheit, sondern eine vorgefundene Gesamtheit, die sich im Kontext verschiedener Ideologien ausdrückt und durch die Handlungen, Äußerungen und das Denken von Individuen durchscheint.
Die 'Gestalt des Piasten' - des solarslawischen Ackerköniges, Begründer der ersten historischen Dynastie polnischer Könige - ist jene Dimension der polnischen Identität, deren alleinige Anziehungskraft ein anderes Verständnis der Rolle und der geopolitischen Zukunft Polens entwickeln kann als das, was ihm derzeit angeboten wird.
Dies ist für Russland unter den gegenwärtigen historischen Umständen, in denen Polen zu einer der wichtigsten Bastionen des Atlantizismus und der Russophobie geworden ist, äußerst wichtig, da das russlandfeindliche Kiewer Regime größtenteils durch Polen genährt wird. Aber sowohl Russen als auch Polen werden schließlich eine gemeinsame Sprache finden und irgendwie im eurasischen Raum koexistieren müssen. Die derzeitige pseudokonservative Ideologie der regierenden polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit legt eine solche Koexistenz überhaupt nicht nahe und führt Warschau, wenn nicht in den geopolitischen Selbstmord, so doch in eine schwere Krise. Eine Alternative kann gefunden werden, wenn man über die historiographischen Klischees der permanenten Feindschaft hinausgeht und sich den Ideen, Figuren und Symbolen zuwendet, die mit der Piastengestalt verbunden sind.
Die Auseinandersetzung mit der Piastengestalt als semantische Einheit, in der sich Geopolitik, Ideologie und Geschichtsschreibung offenbaren, ist eine revolutionäre Geste, denn sie erfordert die Weigerung, die zeitgenössische polnische Geopolitik und die ihr zugrunde liegende national-romantische Tradition als normativen oder selbstverständlichen Imperativ zu betrachten. Aber es ist auch eine betont konservative Geste, denn es bedeutet, die ältesten und tiefsten Aspekte der polnischen slawischen Identität anzusprechen.
Die gemeinsame slawische und christliche Einheit, die Traditionen der slawischen Volksdemokratie und Selbstverwaltung, der Appell an den bäuerlichen Horizont sind ebenfalls wichtige Forschungsbereiche der geosophischen und noologischen Analyse [6]. Sie können auch speziell auf die Piastvo Gestalt bezogen sein.
Die Entwicklung und das Verständnis von Piastentum-Gestalt könnte auch ein wichtiger Bestandteil des polnisch-russischen Dialogs und der Forschung im Geiste der Vierten Politischen Theorie [7] werden. Auf russischer Seite erfordert dieses Thema äußerste Sensibilität, Verständnis für den polnischen Kontext, Einfühlungsvermögen und Respekt für den Gesprächspartner sowie die Ablehnung sowjetischer und postsowjetischer ideologischer Klischees.
Anstatt als gehorsames Instrument des euro-atlantischen Westens in seinem Kampf mit Russland zu agieren und zu versuchen, vergangenes Unrecht und Niederlagen zu rächen und letztlich Werte im Osten zu fördern, die mit der christlich-katholischen oder vorchristlichen volkstümlichen Dimension der polnischen Identität unvereinbar sind, könnte Warschau eine Bastion der Tradition werden. Die wahre Herausforderung für das Polentum kommt heute nicht aus dem Osten, sondern aus dem entchristlichten Westen. Aber dies erfordert auch ein Überdenken der sarmatischen und adligen Komponente der polnischen Nationalidee, die das Vorrecht der Polen selbst ist.
Mehr über die Geopolitik der polnisch-russischen Beziehungen erfahren Sie in A.L. Bovdunovs Buch 'The Great Eastern Europe: Geopolitics. Geosophie. Der dritte Traditionalismus".
Fussnoten:
[1] Wie wurden also die Bauern zu Polen? URL: https://whereispoland.com/en/who-was-polish/7
[2] Миколай Глиньский. Колониализм по-польски, или длинная тень панщины URL: https://culture.pl/ru/article/kolonializm-po-polski-ili-dlinnaya-ten-panshchiny
[3] Kozdra, J. R. (2017). "Was für Kommunisten sind Sie?" Der Kampf zwischen Nationalismus und Ideologie in Polen zwischen 1944 und 1956. https://ro.ecu.edu.au/theses/1955.
[4] Engelgard. J. Bolesław Piasecki 1939-1956. Wydawnictwo Myśl Polska, Warszawa 2015.
[5] Doboszyński А. W pół drogi cz. III. URL: https://dzienniknarodowy.pl/adam-doboszynski-pol-drogi-cz-iii/.
[6] Дугин А.Г. Ноомахия: войны ума. Восточная Европа. Славянский Логос: балканская Навь и сарматский стиль. - М.: Академический проект, 2018.
[7] Дугин А.Г. Четвёртая политическая теория. М.:2009, Дугин А.Г. Четвертый Путь. Введение в Четвертую Политическую Теорию. М.: 2014.