Ordo pluriversalis. Die Gedanken von Leonid Savin und das Ende der 'pax americana'

06.10.2023

Als Chefredakteur der Zeitschrift 'Geopolitics' an der Universität Moskau und der Website 'Geopolitica.ru', ist Leonid Savin, ein produktiver Autor und Analyst, der bereits drei Veröffentlichungen auf Italienisch vorweisen kann, vielleicht einer der interessantesten "Schreiber" für diejenigen, die verstehen wollen, was hinter dem Nebel der Propaganda und der psychologischen Kriegsführung in den Köpfen der herrschenden Klassen in Moskau vor sich geht, die den anhaltenden Konflikt mit der Ukraine regieren: Als Direktor der Stiftung für die Überwachung und Vorhersage der Entwicklung kulturell-territorialer Räume (FMPRKTP) und Mitglied der Militärisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft des russischen Verteidigungsministeriums ist Savin auch einer der führenden Vertreter der internationalen eurasischen Bewegung.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die jüngste Veröffentlichung des Essays 'Ordo pluriversalis. La fine della pax americana e la nascita del mondo multipolare' (Das Ende der pax americana und die Geburt der multipolaren Welt), veröffentlicht von Anteo Edizioni, mit einem Vorwort von Marco Ghisetti, einem jungen und brillanten Geopolitiker, der für denselben Verlag bereits den Essay 'Talassocrazia' geschrieben hatte (der übrigens ein Vorwort von Savin selbst hatte).

"Das Werk", erklärt Ghisetti selbst, "beginnt mit der Feststellung, dass das so genannte Paradigma des 'amerikanischen Friedens' nach den jüngsten Ereignissen zusammengebrochen ist. Der Ausbruch heißer Kriege in Gebieten und Zonen, von denen man annahm, sie seien seit langem im Orbit Washingtons etabliert, bestätigt dies eindeutig. Der Einfluss der USA ist in der Tat in verschiedenen Regionen der Welt auf dem Rückzug, doch ist dies nicht nur auf ein allgemeines Schwinden der Macht in Übersee zurückzuführen, sondern auch auf einen Strategiewechsel, d.h. eine Neupositionierung Washingtons entlang neuer strategischer Linien. Es ist jedoch eine Tatsache, dass das Wachstum der so genannten revisionistischen Mächte, die die Vereinigten Staaten gezwungen haben, sich aus den Regionen zurückzuziehen, die sie zu erobern versucht hatten, nicht in einer bloßen Zunahme ihrer relativen Macht endet, sondern im Gegenteil von einem allgemeinen und weit verbreiteten Unbehagen gegenüber der Weltstruktur begleitet wird, die sich in letzter Zeit herausgebildet hatte. Aus diesem Grund kann das Ende der pax americana eine wirkliche Veränderung der gesamten internationalen Ordnung und nicht nur des Kräfteverhältnisses nach sich ziehen. Aus diesem Grund will Savin in seiner Analyse tiefer gehen als in den zahlreichen bereits vorliegenden Analysen und so sowohl die tieferen Gründe für die Übergangsphase, die wir derzeit erleben, als auch mögliche Alternativen dazu aufzeigen. Außerdem wird bei der Lektüre dieses Textes deutlich, dass Savins Ziel nicht darin besteht, die aktuelle Krisenphase zu dekonstruieren oder zu beschreiben. Savin verfolgt vielmehr ein konstruktives Ziel: Er hofft, intellektuelle Grammatiken identifizieren und anbieten zu können, die sich beim Aufbau der neuen multipolaren Ordnung, die sich im Entstehen befindet, als nützlich erweisen könnten. Wir haben uns entschieden, diese neue Studie von Savin gerade jetzt vorzuschlagen, weil das jüngste russische Vorgehen in der Ukraine (zu dem noch die enorme und unbemerkte Dynamik Moskaus in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara hinzukommt) nicht nur schnell bestätigt hat, was Savin prognostiziert hat, sondern auch die Notwendigkeit für jeden politischen Akteur, der mehr als nur ein Objekt der Machtpolitik anderer sein will, oder für jeden Analysten, der sich in der gegenwärtigen Übergangsphase orientieren will, sowohl die großen Strategien der Großmächte als auch die Weltanschauung, die sie leitet, vollständig zu erfassen. Es ist daher von besonderer Bedeutung und besonders nützlich für den italienischen Leser. Denn Italien, das im Zentrum der Makroregion Mittelmeer und Europa liegt, ist ein Land, dessen Bedeutung leider in direktem Verhältnis zur Unfähigkeit seiner herrschenden Klasse und dem mangelnden Interesse der öffentlichen Meinung an internationalen Angelegenheiten steht, mit dem Ergebnis, dass Italien in dieser stürmischen Übergangsphase ohne Kompass navigiert. Savins Buch, das trotz seines Titels und seines Umfangs wirklich leicht und flüssig zu lesen ist, hat das Potenzial, den Kompass zu bieten, den man braucht, um sich in der gegenwärtigen Phase der Krise zu orientieren, und damit die Möglichkeit, bewusster und angemessener auf die Entscheidungen zu reagieren, die wir bald treffen müssen".

Was sind nun aber die Alternativen zum aktuellen globalen Szenario, die der Autor vorschlägt?

Die Alternativen zum gegenwärtigen Szenario", so Ghisetti weiter, "hängen von den Handlungen und dem Willen der beteiligten Akteure ab sowie von der Art der Ordnung, die sie anstreben und durchsetzen wollen. Der Multipolarismus und insbesondere die derzeitige Übergangsphase ist eine offene Baustelle. Für Savin hängt die Weltordnung nicht ausschließlich vom Gleichgewicht der Weltmächte ab, denn ihre Struktur ist nicht etwas Gegebenes und Unveränderliches. Gleichzeitig argumentiert Savin, dass in der Weltpolitik viele Ebenen, viele Visionen und Interpretationen der Welt koexistieren, die gleichermaßen legitim sind und daher die Weltordnung beeinflussen, wie auch immer sie aussehen mag. Aus diesem Grund spricht Savin lieber von einem 'Pluriversum' als von Multipolarismus. Im Wesentlichen und im Moment sind die wichtigsten Alternativen die der großen eurasischen Mächte (Russland und China), zu denen noch die der muslimischen und lateinamerikanischen Welt (oder Welten) hinzukommen, deren gemeinsamer Nenner gerade der Widerstand gegen die Dominanz der Krematistik und einer einzigen Weltmacht ist. Je nach dem Erfolg ihrer anti-hegemonialen Politik in Verbindung mit ihrer besonderen Vision des politischen Pluriversums werden diese Mächte anderen Weltanschauungen die Möglichkeit bieten, sich durchzusetzen, selbst in Regionen oder Kulturen, die ihnen fernstehen. Eine dieser Regionen ist eben Europa, dem Savin ein ganzes Kapitel über das Projekt der strategischen Autonomie und die besondere Rolle, die es spielen könnte, widmet".

Welche Lehren lassen sich aus Savins Essay und seinen Überlegungen im Lichte der jüngsten Ereignisse ziehen?

"Eine erste Lehre", fährt der Herausgeber des Werkes fort, "und die offensichtlichste, ist, dass wir uns nicht mehr in einer Periode des vom US-Hegemon garantierten 'Friedens' befinden, wenn man überhaupt von Frieden sprechen kann, da einige Autoren, nicht ganz zu Unrecht, es vorgezogen haben, vom 'endlosen Krieg' statt vom 'amerikanischen Frieden' zu sprechen. Eine zweite Lehre, die sich direkt aus der ersten ableitet, ist, dass wir angesichts der Kriege, die jetzt gerade auf europäischem Boden ausgebrochen sind, nicht mehr leichtfertig und naiv davon ausgehen können, dass unsere Sicherheit vollständig vom wohlwollenden Willen eines Hegemons abhängen kann, der offensichtlich bereit ist, uns seine Kriege führen zu lassen (oder seine Kriege auf unserer Haut zu führen). Eine dritte Lektion ist, dass wir uns angesichts der gegenwärtigen Situation dazu entschließen müssen, für unser eigenes Schicksal verantwortlich zu werden und somit zu entscheiden, was wir tun und was wir sein wollen in einer Welt, in der unsere Bedeutung und der Einfluss unserer politischen und wirtschaftlichen Institutionen rapide abnimmt (ganz zu schweigen von unserem zunehmend lächerlichen kulturellen Einfluss). Wenn wir dieses Bewusstsein erlangt haben, öffnen sich vor uns die Tore zu jeder möglichen alternativen Zukunft, in die wir unsere historische Zukunft lenken können, wenn wir uns nur der Situation bewusst sind und bereit sind, die Maßnahmen und möglichen Risiken eines solchen Unterfangens auf uns zu nehmen.

Welchen Durchbruch kann die vom Kreml beschlossene "Sonderoperation" in der Ukraine für den Übergang zu einem polyzentrischen Modell bringen?

"In dem Buch", so Ghisetti weiter, "stellt Savin klar, dass Russlands Engagement für den Aufbau eines polyzentrischen Modells für die Welt eine unabdingbare, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die effektive Zementierung einer multipolaren Welt ist. In der Tat versucht Russland seit mehr als zwanzig Jahren, den Aufbau einer Welt zu fördern, in der es seine Souveränität bewahren und eine gewisse Fähigkeit zur Außenprojektion beibehalten kann, was sich in den Augen der Kreml-Leute in einer Politik manifestiert, die darauf abzielt, dass Moskau eine stabilisierende und ausgleichende Rolle in den verschiedenen Weltregionen spielt. So hat es beispielsweise mit China und den zentralasiatischen Staaten ein für alle Mal ihre jeweiligen Grenzen festgelegt und versucht, seine Integrationsprojekte mit Chinas Neuer Seidenstraße in Einklang zu bringen, um so ein Nullsummenspiel zwischen Peking und Moskau in Zentralasien zu vermeiden; im Nahen und Mittleren Osten hat Moskau militärisch und diplomatisch interveniert, um die Region zu stabilisieren und Akteure zu verdrängen, die interethnische und interreligiöse Spaltungen und Konflikte schürten; in der Arktis hat Russland ebenfalls versucht, dieselbe Politik zu verfolgen, indem es die Grundlagen für künftige arktische Routen legte und versuchte, einen Aufrüstungswettlauf im Eismeer zu verhindern. Die Grenze zu Osteuropa ist somit das letzte Grenzgebiet, das noch nicht stabilisiert wurde oder bei dem in dem relativen Integrationsprojekt (der Europäischen Union) eine Nullsummenspiel-Situation verbleibt, obwohl Moskau versucht hat, mit dem EU-Integrationsprojekt in gewisser Weise eine ähnliche Beziehung wie mit Chinas Neuer Seidenstraße aufzubauen. Dies war nicht möglich, weil die NATO jede Art von Verständigung zwischen Brüssel/Berlin und Moskau verhinderte und damit ein Nullsummenspiel in Osteuropa schürte, das schließlich in den Krieg in der Ukraine ausartete. Die Entscheidung Moskaus, eine so genannte "besondere Militäroperation" durchzuführen, deren Logik derjenigen der Intervention in Syrien zugunsten der Regierung al-Assad folgt, zeigt, dass die Widersprüche in den Beziehungen Russlands zum Westen aufkochen und dass Putin die russische Führung von jeglichen prowestlichen Ambitionen abhalten will. Das bedeutet nicht, dass Moskau Europa den Rücken gekehrt hat oder seinen Wunsch, auch seine Westgrenze zu stabilisieren. Russland ist sich sehr wohl bewusst, dass es sich das nicht leisten kann, und die Tatsache, dass es den Einsatz in der Ukraine offiziell weiterhin als "spezielle Militäroperation" bezeichnet, die auf die Entnazifizierung und Neutralisierung der Ukraine oder den Schutz der russischsprachigen Bevölkerung in den separatistischen Republiken abzielt, ist ein Beweis dafür. Die europäische Politik zielt jedoch unter dem Druck der USA darauf ab, die Beziehungen zu Russland zu kappen, selbst um den Preis der Kastration und der wirtschaftlichen und sozialen Zerstörung des Landes (Russland hingegen ist in der Lage, dies zu überleben, da es seit zwanzig Jahren eine multivektorale Außenpolitik und eine Quasi-Autarkie im Inneren verfolgt), die im Namen leerer Moralpredigten oder der Loyalität gegenüber der atlantischen Welt unternommen werden, können einerseits nur die Kriegssituation im europäisch-russischen Grenzgebiet verlängern und andererseits den europäischen Niedergang hin zu einer Situation der internationalen Isolation und Bedeutungslosigkeit beschleunigen. Aber die europäische Makroregion ist nach wie vor eine der strategischsten auf internationaler Ebene. Wahrscheinlich ist dies der Grund, warum Savin, der seine Studie mit einer Untersuchung der Krise des westlichen Modells (zunächst eurozentrisch und später amerikazentrisch) beginnt, sie mit einem Kapitel abschließt, das dem europäischen Niedergang gegenüber dem minderheitlichen, wenn auch vorhandenen europäischen Willen, seine strategische und kulturelle Autonomie zu behaupten, gewidmet ist. Russlands 'besondere Militäroperation' stellt, anders ausgedrückt, nicht so sehr einen Wendepunkt im Aufbau einer polyzentrischen Welt dar, als vielmehr eine Beschleunigung, die die Zeit verkürzt, innerhalb derer Italien und Europa entscheiden müssen, was sie in der gegenwärtigen Übergangsphase sein und tun wollen, auf die Gefahr hin, den Appell der Geschichte zu verpassen und schließlich in Vergessenheit zu geraten".

Quelle: https://blog.ilgiornale.it

Übersetzt von Robert Steuckers