Max Weber: Wissenschaft und Entzauberung der Welt

27.12.2022

Nach Jahrhunderten des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts hat das Wissen der Menschen abgenommen. Dies war die These von Max Weber (1864 - 1920), dem wichtigsten deutschen Soziologen des 20. Jahrhunderts, der als "Marx der Bourgeoisie" gilt, aktueller denn je.

Im Dezember 1917, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, hielt Weber in München einen Vortrag mit dem Titel Wissenschaft als Beruf, aus dem eine aufschlussreiche Beschreibung der wissenschaftlichen Ethik in der modernen Gesellschaft hervorgeht, sowie der Rolle, oder besser gesagt der Verantwortung, die sie denjenigen auferlegt, die sie ausüben wollen. Übrigens hat sich Weber sein ganzes Leben lang ausgiebig mit Rationalität und Rationalisierung beschäftigt. Das erste Konzept drückt die Modalitäten und die natura naturans aus, die dem menschlichen sozialen Handeln immanent sind. In der Tat gibt es vier klassischen Arten der Rationalität; menschliches Handeln kann nach der soziologischen Perspektive tatsächlich sein:

Rational in Bezug auf den Zweck = das Subjekt handelt, indem es die besten Mittel zur Erreichung des Zwecks wählt und versucht, alle Konsequenzen zu bewerten.

Rational in Bezug auf den Wert = Handeln, das gemäß den ethisch-moralischen Überzeugungen und Werten des Einzelnen gerechtfertigt ist, selbst auf Kosten des materiellen Nutzens.

Traditionell = das Subjekt handelt aus Gewohnheit; es gibt kein wirkliches Bewusstsein oder einen Grund für die mögliche tägliche Routine.

Affektiv = das Subjekt wird durch Gefühle, Emotionen oder andere nicht-rationale Einflüsse bewegt.

Die zweite hingegen steht für Weber für jenen langen Prozess, der die moderne Welt hervorgebracht hat, d.h. den langsamen und allmählichen Ausstieg der Menschheit (Western in primis) aus dem magischen und traditionellen Denken klassisch-mittelalterlichen Ursprungs. Bereits auf den ersten Seiten von 'Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus' beschreibt Weber mit heller Klarheit, worin die wissenschaftliche Vernunft besteht, die Ursache für die große kulturelle Divergenz Europas vom Rest der Welt. Denn obwohl es in Indien, Ägypten, China, Babylon usw. wissenschaftliche und künstlerische Fortschritte gab, von denen auch die alten Europäer profitierten, "hat die 'Wissenschaft' in ihrer Entwicklung erst im Westen das Stadium erreicht, das wir heute als 'gültig' anerkennen" [1].

Nach Jahrtausenden des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist die Menschheit jedoch eher unwissend, in dem Sinne, dass sie ignoriert, wie man sagt. Weber selbst beschreibt den Prozess als alles andere als optimistisch. Um auf den Vortrag über die Wissenschaft zurückzukommen, erklärt er scharfsinnig, wie die aufgezwungene hypertechnologische Rationalisierung in Wirklichkeit den Rückgriff auf Magie und abergläubischen Glauben keineswegs ausgelöscht hat: Um ein Beispiel zu nennen, jeder, der heute mit der Straßenbahn fährt, hat, sofern er kein Experte für Technik oder Verkehr ist, keine Ahnung, wie sie technisch funktioniert; jeder verlässt sich auf die Gewohnheit und den Glauben, dass das Fahrzeug irgendwie seine Aufgabe erfüllt. Das Gleiche gilt für die große Mehrheit der Dinge um uns herum. Im Gegensatz dazu hat ein Wilder im Naturzustand tatsächliches, vollständiges und persönliches Wissen über die Techniken, die er für seinen Lebensunterhalt einsetzt. Der (durchschnittliche) moderne Mensch weiß im Gegensatz zum Wilden (aber das gilt auch für einen kleinen europäischen Unternehmer des 13. Jahrhunderts) fast nichts über seine Welt.

Darin liegt der springende Punkt: Die moderne Wissenschaft, die weit davon entfernt ist, den Aberglauben und die magischen Götzen der Vergangenheit zu überwinden, ist selbst mit reinen Dogmen ausgestattet, die ihr widersprechen. Oder besser gesagt, es entstehen neue Götter, die über dem Leichnam des toten Nietzscheanischen Gottes auferstehen. Die vergöttlichte Vernunft hat den sokratischen Dialog mit sich selbst, dem Logos, aufgegeben. Es ist die Bestätigung der Warnung von Chesterton:

"Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben, ist es nicht wahr, dass sie nicht mehr an irgendetwas glauben: Sie glauben an irgendetwas".

Das Gegenstück zur wahren religio des augustinischen Gedächtnisses ist nicht die Abwesenheit von Religion, von Glaube; es ist die Apotheose der phantasmata (φάντασματα), der falschen Götzen der Höhle, wie Platon sie nannte. Die neue wissenschaftliche Technokratie ist so zum neuen Klerus geworden; die Theorien und bloßen Expertenmeinungen, seien sie medizinisch oder wirtschaftlich, werden mit der gleichen dogmatischen Ladung wie eine päpstliche Bulle bekräftigt, obwohl sie oft alles andere als wissenschaftliche Gewissheit haben.

Die exponentielle 'Intellektualisierung und Rationalisierung' hat, wie Weber erklärt, zwar nicht zu einem größeren Wissen über die Bedingungen des Lebens beigetragen, aber dennoch eine wichtige kopernikanische Wende ermöglicht:

"Das Bewusstsein oder der Glaube, dass man, wenn man nur wollte, jederzeit zur Erkenntnis gelangen könnte, [dass man] alle Dinge durch rationale Berechnung beherrschen kann [2]."

Doch gleich darauf fügt er hinzu: "Aber das bedeutet die Entzauberung der Welt. Die Menschheit hat sich selbst in einen Stahlkäfig eingesperrt, in dem sie sich vor ihren alten Feinden schützt: Astrologie, Magie, Alchemie, sapientielle Mysterien. Die Opfer ihrer eigenen gewaltsamen Unterdrückung, aus der Zeit der Reformation, die Hexen und ethische Normen zur Verteidigung des Heiligen abschlachtete. Es ist kein Zufall, dass wir heute die Rückkehr eines solchen Wissens erleben (siehe Giorgio Galli), denn der Rationalismus der Aufklärung war letztlich nicht in der Lage, dem Menschen das Wissen um das Wissen, das letzte Ziel des Lebens und der miteinander verbundenen Dinge, zu vermitteln. Der avalutative Spezialismus, den Weber selbst bewusst vertritt, setzt den Verzicht auf den Sinn des Lebens und die vollständige Erklärung der Phänomene voraus.

Tolstoi, der von Weber zitiert wird, behauptet, dass der Tod für den Menschen keine Bedeutung mehr hat, da Technik und Wissenschaft einen unendlichen Fortschritt voraussetzen; der Mensch und sein Dasein werden auf ein bloßes infinitesimales Nebeneinander eines Universums in ständiger Selbstextraktion reduziert. Der Tod macht für ein Universum, das den Fortschritt braucht, keinen Sinn, er ist eine lästige Unterbrechung. Ebenso können wir uns nicht mehr "voll des Lebens" fühlen: Ein alter Bauer konnte alles bekommen, was das Leben ihm in seinem organischen Zyklus zu bieten hatte, und ohne die Angst vor der Aufhebung von etwas sterben. Heute hingegen erfasst der Geist nur einen fragmentierten, minimalen und vorübergehenden Teil. Da der Tod bedeutungslos ist, ist auch das Leben der Kultur als solches bedeutungslos [3]".

Schließlich manifestiert sich die Webersche Ernüchterung in der inhärenten Begrenztheit der Wissenschaft:

"Sie ist bedeutungslos - um Tolstoi zu zitieren - weil sie keine Antwort auf die einzige wichtige Frage für uns Menschen gibt: Was sollen wir tun? [4]".

Ein Mittel zur Lösung des Problems könnte eine 'Wissenschaft ohne Annahmen' sein; allerdings kann keine Disziplin an sich ohne sie auskommen. Um ein Beispiel zu nennen: Ärzte messen der immerwährenden und unverletzlichen Erhaltung des Lebens als solchem einen positiven Wert bei. Es gibt (Gott sei Dank) keinen Arzt auf der Welt, der ein Leben unter seiner Aufsicht sterben lassen würde. Aber die Annahme, dass das Leben als solches einer ewigen Erhaltung würdig ist, lässt sich nicht erklären; schon gar nicht von den "Praktikern". Das Problem besteht also und betrifft nicht so sehr den Inhalt, denn es ist wahr, dass das Leben erhalten werden muss und heilig ist, sondern wer damit umgehen soll und wie. Denn, wie bereits gesagt wurde, sind die heutigen wissenschaftlichen Disziplinen im Grunde genommen nicht in der Lage, diese Aufgabe zu erfüllen. Und hier erweist sich der Stahlkäfig als eiskalt.

Der gordische Knoten wird vom Autor nicht gelöst. Tatsächlich starb er 1920 im Alter von nur 56 Jahren an den Folgen der sogenannten Spanischen Grippe, nachdem er als Delegierter für Deutschland an den Friedenskonferenzen von Versailles teilgenommen hatte. Es bleibt jedoch das Echo eines kaum geflüsterten Dilemmas:

"Niemand weiß, wer in Zukunft in diesem Käfig leben wird und ob es am Ende ... [zu einer] Wiederbelebung der alten Gedanken und Ideale kommen wird."

Fussnoten:

[1] M. Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S.33, BUR Rizzoli, 2016

[2] M. Weber, La scienza come professione/La politica come professione, S.20, Einaudi, 2004

[3] Ebd. S.21

[4] Ebd. S.26

Quelle

Übersetzung von Robert Steuckers