Interview mit Stefan Blankertz Teil 3: Die Liberalen und die Libertären
Mit der neuen Linken ist die Idee der sogenannten Postmoderne verknüpft. Dugin hat zu dem Thema eine sehr zwiespältige Meinung. Auf der einen Seite ist die Postmoderne quasi die Beschleunigung der Moderne und ein Abriss aller Gewissheiten, auch der Menschlichkeit und auch des Verstands als solchen. Aber es würde die Bühne für das Entstehen des sogenannten "radikalen Subjektes" bringen. Dieses Konzept bringt Dugin sehr mit Nietzsches Begriff des Übermenschen zusammen. Dieses radikale Subjekt ist kein Teil des Nihilismus, aber auch kein Überbleibsel der zerstörten Vergangenheit. Jemand, der gedanklich was radikal Anderes als die Welt ist. Und deshalb kann er einmal klar erkennen, wie die Welt ist, und er ist quasi radikal Frei und kann einen Neuanfang wagen. Dugin hat es dieses radikale Subjekt auch sinngemäß so ausgedrückt: "Das Licht um mich herum in der Welt ist tot. Also muss ich selbst zum Licht für die Welt werden." Wie bewertest Du dieses radikale Subjekt als Ergebnis der Postmoderne? Und ist es nicht irgendwie so, dass erstaunlicherweise, obwohl Dugin den Individualismus sonst eigentlich als etwas Schlechtes und geradezu "Giftiges" sieht, irgendwie eben jenen Individualismus wieder etwas zurück bringt? Und hilft es vielleicht bei der Frage nach Individualismus, wenn man quasi vergleichend an die Sache ran geht? Individualismus in Form "Ich bin der große Egoist. Das ist mein Reichtum und mein Eigentum. Und Hauptsache ihr Anderen kriegt nichts ab", jemand, der sich nur um seine eigene Haut schert und dem es egal ist, wie es sonst so auf der Welt aussieht, der sogar bereit ist, über Leichen zu gehen. Das ist meistens die Form Individualismus, die Dugin stark kritisiert. Bei einem Individualismus der Marke "Ich will ein leuchtendes Beispiel für Andere sein und was Gutes tun, damit es nicht nur mir, sondern meinen Lieben besser geht", da hat Dugin sehr wenig dagegen. Das findet er im Gegenteil sogar gut. Was denkst Du darüber und hilft das nun, das Problem des Individualismus zu lösen und einzukreisen?
SB: Das Konstrukt der "Postmoderne" ist in sich hoch problematisch. Die Behauptung, die Moderne sei durch "Gewissheiten" gekennzeichnet, man selber aber sei nun für die Vielfalt offen, enthält eine Mystifikation und eine Selbstmystifikation. Die Mystifikation ist, dass die Vergangenheit gesehen wird als von einem Konsens, einer Einheitlichkeit getragen. Das kann man natürlich nur, wenn man alle widerstreitenden Richtungen in der Vergangenheit einfach mal entweder ignoriert oder als im Grunde gleich bezeichnet. Die Selbstmystifikation ist, dass man sich für offen für alles stilisiert. In Wahrheit sind die postmodernen Philosophen ihrerseits bestrebt, eine homogene Gruppe zu werden; sie sind keineswegs offen für alles. Die Theoretiker des Postmodernen gefallen sich ja auch darin, den Individualismus aufzulösen. Aber auch wenn sie gemeinsam ein Buch schreiben, sind sie doch jeder für sich Autoren. Dadurch, dass ein Autor sich von früheren Autoren beeinflussen lässt und dass zwei Leute gemeinsam ein Buch schreiben, löst sich das Individuum nicht auf. Und das scheint auch die Erfahrung von Dugin zu sein. Letztlich entkommen wir der Logik von Kant nicht: Das "Ich denke" begleitet alles meine Handlungen; wenn es es nicht begleitet, handle ich nicht, dann passiert nur etwas. Ich habe den Eindruck, die Auflösung des Individuums ist nichts als eine große Geste ohne viel Inhalt. Man kann es dann anders bezeichnen, Adorno sagt "Subjekt", Dugin, wenn ich dich richtig verstehe, sogar "radikales Subjekt". Aber keiner entkommt, psychologisch gesprochen, der immanenten Denknotwendigkeit der "Meinhaftigkeit": Ich denke.
Ein Teilaspekt dieser Thematik ist offensichtlich die Idee der Verantwortung. Denn eigentlich läuft dieser Individualismus als jemand, der sich nur um sein eigenes Wohl schert und der auch nichts an der Welt ändern will, Hauptsache er hat genug zu fressen, auf totale Ablehnung eigener Verantwortung raus. Das radikale Subjekt als "Licht für die Welt". Das ist jemand, der in großem Maße bereit ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Neben der Gestalttherapie gab es ja andere Existenzielle Therapeuten, insbesondere Victor Frankl. Frankl hat sehr stark die Bedeutung der Verantwortung betont und gesagt, dass der einzige Weg, ein geistig gesunder Mensch zu bleiben, eigentlich ist, seine Verantwortung zu akzeptieren. Wie Jordan Peterson es ausdrückt, nicht vor dem möglichen Schmerz und Leid wegzulaufen, was einem erwarten kann, sondern zu denken, dass es egal ist, wie sehr man leidet. Wichtiger ist, dass man in dieser ach so schlimmen Welt wenigstens ein kleines Stückchen Gutes erreichen kann, für jemanden. Dass es zumindest in einem klitzekleinen Punkt besser war, dass man auf der Welt war. Und so auch etwas zu finden, für das es sich gelohnt hatte, zu leben und auch zu leiden. Kann die Frage so beantwortet werden, dass der Weg, wo "Individualismus" was Gutes sein kann, darin liegt, dass man genau diese durch Frankl beschriebene Verantwortung akzeptiert und lebt?
SB: Dass der Individualismus per se der Idee der Verantwortung widerstreitet, möchte ich gern bezweifeln. Im Gegenteil. Verantwortung kann nur das Individuum übernehmen. Eine Gruppe als Ganzes ist dazu gar nicht in der Lage. Sich im oder hinter dem Kollektiv zu verstecken, ist ein probates Mittel, um sich der Verantwortung zu entziehen. Freilich kann es Individuen geben, die sich um nichts als sich scheren und die es stets ablehnen, Verantwortung zu übernehmen; wir haben über Hedonisten und Egoisten gesprochen. Allerdings sind die bedeutend harmloser als ihr schlechter Ruf es suggeriert. Indem sie sich um sich selber kümmern, richten sie weit weniger Schaden an als die, die immer meinen, die ganze Welt retten zu müssen und war auf Kosten Anderer. Wie jemand zu der Welt steht, ob er hilfsbereit ist, ob er Verantwortung übernimmt, ob er mutig ist oder dies alles eben nicht, alles das sind mögliche Entscheidungen, die ein Individuum treffen kann. Aber wer anderes als das Individuum kann sich entscheiden?
Und egal wie stark nun Dasein und Individuum überlappen oder was anderes sind. Dieses Thema der Verantwortung ist genau der springende Punkt, wo unsere beiden Seiten eigentlich im Einklang sind: Der Mensch ist in jedem Moment für sein Tun verantwortlich und das zu leugnen, bringt Unglück. Auf der anderen Seite scheint es aber irgendwie so zu sein, dass der heutige Linksliberalismus zwar die Handlungsmöglichkeiten des Einzelmenschen erweitern will, aber gleichzeitig immer stärker diese Verantwortung leugnet oder aufhebt? Kann es sein, dass sich der Linksgrüne "Liberalismus 2.0" da sowohl vom Dasein als auch vom liberalen Individuum, wie es ursprünglich gemeint war, komplett entfernt?
SB: Ja, das, was heute gepredigt wird, ist die völlige Enthebung des Individuums von Verantwortung und damit von Entscheidung. Alles soll die Gesellschaft entscheiden. Egal ob es um Gesundheit, Kriminalität oder sonst was geht, gesellschaftliche Prävention ist alles. Das führt zu allumfassender Bevormundung. Obwohl das in den USA heute als die Position der "liberals" gilt, wird zugleich ja der Begriff des Liberalismus mit Nazis gleichgesetzt. In manchen Kreisen ruft es mehr Entsetzen hervor, wenn ich mich als Liberaler als wenn ich mich als Anarchist bezeichne. Um mich nun wirklich zwischen alle Stühle zu setzen, bezeichne ich mich augenzwinkernd gern als "neoliberaler Kulturmarxist", da ist dann alles drin, was die herrschende Meinung, die Meinung der Herrschenden, verabscheut.
Peter Töpfer hat mich gebeten, die Frage zu stellen, wie man dieses radikale Subjekt nun aus gestaltpsychologischer Sicht sehen kann? Wäre so jemand ein "erfolgreich therapierter Mensch"?
SB: Die Gestalttherapie versucht ja so weit wie möglich, es zu vermeiden, die Klienten an eine Norm anzupassen. Insofern sind Gestalttherapeuten oft vorsichtig, von "Erfolg" zu sprechen. Es geht eher darum, die Klienten zu einem guten Kontakt mit den Mitmenschen, mit der Umwelt und mit sich zu ermutigen. Wenn das unter "radikalem Subjekt" verstanden wird, ist es meinetwegen das Ziel der Therapie.
Irgendwie scheint Dugins Buch "Noomakhia" in diese Diskussion gerade mit rein zu spielen. Dort sagt Dugin, es gäbe grundlegend eigentlich 3 geistige Typen. Der erste ist der Logos der Apollon, der an eine perfekte Ordnung glaubt, und Chaos und Abweichung von dieser Ordnung nicht toleriert und bekämpfen will. Diesem Menschen ist auch die Idee wichtiger als die materielle Realität. Dann den Logos der Kybele. Dieser drückt sich vor Entscheidungen und flieht vor der Realität und vor Problemen, bleibt ewiger Kindskopf (im schlechten Sinn) und will ein Paradies haben, wo die "große Mutter" sich immer um ihn kümmert und er nichts tun muss. Die eben angesprochene "Hauptsache ich besitze viel, alles andere ist egal"-Haltung gehört laut Dugin auch zur Kybele. Diese beiden Typen seien aber fundamental eigentlich psychisch krank. Geistig gesund sei eigentlich nur der sogenannte Logos des Dionysus als Mittelweg. Dieser ist nicht starr an eine Ordnung gebunden, kann aber sich für eine Ordnung entscheiden. Er kann aber auch im guten Maß Chaos, Kontrollverlust und Selbstauflösung tolerieren und für sich selbst nutzen. Das spielt irgendwie auch mit rein und beschreibt das Problem auch noch von anderer Seite.
SB: Solche Großtypen-Einteilungen der Menschheit sind durchaus beliebt und manche machen auch Sinn. Diese, die Du hier vorstellst, scheint eine Erweiterung von Nietzsches zwei Typen, dem ordnenden appolinischen und dem rauschhaften dionysischen Typus zu sein. Doch für eine differenzierte Analyse taugen diese Einteilungen meist nicht. Von der Gestalttherapie her gesehen bin ich besonders skeptisch gegenüber Kennzeichnungen von gewissen Typen als "krank". Daraus leiten sich dann schnell Programme ab, die die "kranken" Typen zwangstherapieren und an den gewünschten Typus anpassen wollen.
Kommen wir nun zum Thema Liberalismus/Libertarismus. Wie kamst du darauf, dass Du Dich den Libertären angeschlossen hast? Du hast ja über deine Vergangenheit erzählt. Und da wäre es wahrscheinlich realistischer gewesen, dass Du zum Schluss gekommen wärest, dass Libertäre eigentlich bourgeoise Trottel wären, die am besten sofort an die Wand gestellt gehören. Warum hast Du Dich stattdessen dann ihnen angeschlossen?
SB: Es war eher umgekehrt, dass mir die maoistischen Leute als Anarchisten in Aussicht gestellt hatten, nach der Revolution müsste man mich natürlich liquidieren, aber vorher sollte ich gefälligst in der Volksfront mit für den Sieg der Revolution arbeiten, das sei meine Pflicht. Ich hatte von Anfang an etwas gegen das Konzept des An-die-Wand-Stellens. Errico Malatesta, einer der einflussreichsten Anarchisten in Italien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, meinte, wenn man für den Sieg Erschießungskommandos losschicken müsste, würde er lieber auf den Sieg verzichten. Einer meiner wichtigsten anarchistischen Ideengeber, der US-Amerikaner Paul Goodman, war zwar linker Anarchist, aber hatte die größte Hochachtung vor der liberalen Tradition Thomas Jeffersons. So hatte ich früh eine positives Bild vom klassischen Liberalismus. Was dem Anarchismus fehlte, war eine solide ökonomische Theorie, die erklärt, warum die freiwillige Wirtschaft zur freiwilligen Gesellschaft gehört und passt. Diese Theorie hat Murray Rothbard beigesteuert. Das hat mich damals überzeugt und überzeugt mich auch heute noch.
Dugin hat in seinem letzten Buch und seinem Artikel "Liberalismus 2.0" ja gesagt, dass obwohl er den Liberalismus kritisiert hat, er Hayeks Ideen und die österreichische Schule eigentlich ziemlich tolerieren könnte. Im Gegensatz zu den Linksliberalen, die eine einzige Katastrophe wären. Du bist auch sehr von der österreichischen Schule überzeugt. Was sind eigentlich die guten Sachen an der österreichischen Schule? Oder anders gefragt. Was kann man da lernen und warum sollten Dugin und seine Anhänger Mises lesen?
SB: Mises liefert ein erkenntnistheoretisches Fundament für die Ökonomik, die ihresgleichen sucht. Wer verstanden hat, dass die auf Freiwilligkeit basierende Wirtschaft allen am besten dient, wird nie wieder auf die Politiker-Phrasen reinfallen. Der wird immer verstehen, dass alle Interventionen in die Wirtschaft speziellen ökonomischen Interessen dienen, die sich gerade nicht über den Markt realisieren lassen, sondern der Staatsgewalt bedürfen.
Ich hab mich ja auch mit den Austrians beschäftigt. Dies scheint eine sehr individualistische Denkrichtung zu sein. Ich glaube, Mises hat sinngemäß gesagt, nur das Individuum handelt und nur das zählt. Irgendwelchen Kollektive, welche bei der Entscheidungsfindung eine Rolle gespielt haben könnten, seien komplett unwichtig. Wir haben ja aber schon gesprochen, dass unser Subjekt hier eben nicht das Individuum sondern das Dasein ist. Kann man die Austrians nun mit dem Dasein versöhnen? Und sollte man sich mit den Austrians beschäftigen, auch wenn man das Individuum als primäre Idee ablehnt?
SB: Mises hat ausdrücklich von einem "methodischen Individualismus" gesprochen, das heißt, die Ökonomik geht vom Individuum als Entscheidungsinstanz aus; dabei wird nicht in Abrede gestellt, dass die Entscheidungen des Individuums durch andere Menschen, durch Erfahrungen, durch die Umwelt beeinflusst werden. Allerdings hat Mises bei seiner Kritik an Kollektivbegriffen sicherlich oft übers Ziel hinaus geschossen, wenn er zum Beispiel andeutet, es gäbe gar keine Gesellschaft. Man muss das verstehen als berechtigte Reaktion gegen den Kollektivismus der Kommunisten und Faschisten. Damit stand er nicht allein. Der Marxist Theodor W. Adorno hat der Gestaltpsychologie vorgeworfen, ihr Ganzheitsbegriff sei im Kern faschistoid. Für Adorno zählte auch nur das Subjekt. Wie gesagt, ich kann das nachvollziehen und werfe es weder Adorno noch Mises vor, aber natürlich muss man hier theoretisch etwas korrigieren.
Welche Aspekte der Liberalen sind gut und erhaltenswert, selbst wenn man den Liberalismus als Theorie der Moderne eigentlich überwinden will? Und was könnte weg?
SB: Mein Programm ist es nicht, den Liberalismus oder die Moderne zu überwinden. Ich knüpfe mit Hochachtung an die liberale Tradition an. Das was wegkann, ist die dümmliche Koalition der Liberalen früher mit Nationalismus, Militarismus, Kolonialismus und heute mit dem ganzen Bevormunderquatsch, das heißt die Koalition mit dem Etatismus.
Ich hatte bisher hier auf der Seite probiert, einen Ansatz einer libertären Betrachtung zur 4.pt zu liefern. Ich hatte die Autoren Leo Strauss, Hans Herman Hoppe, Korwin Mikke, John Whiteside Parsons, Robert Heinlein, Mises, Hayek, Konkin, Ludwig Erhard, Hegel, Rothbard empfohlen. Wen würdest Du noch zusätzlich empfehlen?
SB: Von den klassischen Anarchisten Michael Bakunin, Pierre-Joseph Proudhon, Marx Stirner, Lysander Spooner, Benjamin Tucker, Voltairine de Cleyre, Emma Goldmann, Martin Buber, Gustav Landauer, Paul Goodman. Von den zeitgenössische Austrians noch Thomas Sowell.
Dugin hat auch den Aspekt der "Geschlechtertheorie" hervor gehoben. Da hat er gesagt, bei Linken gäbe als interessante Punkte z.B. die Betrachtung der Extase durch Autoren wie George Bataille. Bei den Rechten nannte er Evolas Betrachtung historischer Geschlechterrollen z.B. im Christentum, aber auch Dingen wie dem Tantrismus, und auch Herman Wirths Erforschung der Rolle der Hexen in der Antike. Er nannte auch allgemeine Aspekte von Surrealisten wie Antonin Artraud oder den Bereich des irrationalen Spieltriebs ("homo Ludens"), die nicht unbedingt zum Bereich Politik gehörten. Gleichzeitig meinte Dugin aber, bei den Liberalen gäbe es da absolut gar nichts Interessantes zu finden, da sich Liberale auf die Idee des Mannes als Arbeiter und der Frau als Hausfrau und Mutter versteift hätten. Ich hab da etwas entgegen gehalten und Jack Parsons, Robert Heinlein und ein paar Aspekte der Ideen Ayn Rands genannt. Wie siehst Du das Thema? Gibt es interessante Themen zur Geschlechtstheorie bei Liberalen?
SB: Das ist merkwürdig, die Behauptung, Liberale hätten sich auf die Idee des Mannes als Arbeiter und der Frau als Hausfrau und Mutter versteift. Das habe ich immer für die konservative Position gehalten. Meines Wissens waren die Liberalen, die sich nicht auf die konservative Agenda eingeschworen hatten, immer für die Gleichberechtigung und für Wahlmöglichkeiten. Der Kapitalismus hat die Herauslösung der Frau aus ihrer ökonomisch fixierten Rolle als Hausfrau und Mutter möglich gemacht. Von den klassischen Liberalen fällt mir Josephine Butler ein, eine frühe Feministin aus dem Umfeld der Manchesterschule. Von den klassischen Anarchisten Voltairine de Cleyre und Emma Goldman. Von den zeitgenössischen Libertären Wendy McElroy.
Die Frage könnte möglicherweise etwas seltsam erscheinen. Es gab bei politischen Theorien bestimmte "nach dem Übernatürlichen strebende" Randerscheinungen. Beim Faschismus sind die Thule-Gesellschaft und Leute wie Miguel Serrano bekannt. Bei den Linken gab es Juan Posadas, der den Kommunismus mit Aliens in Verbindung brachte, und die Monteiristen, die lehrten, um ein guter Kommunist zu werden, müsste man alle Anhaftung an das Vergängliche und Sterbliche aufgeben und geistig zum Gott in Menschengestalt werden. Gab es so etwas auch beim Liberalismus? Mir würde Jack Parsons einfallen, aber sonst? Und was könnte man von solchen Personen lernen (falls es sie gab)?
SB: Esoterische oder religiöse Liberale fallen mir gerade nicht ein, aber natürlich welche unter den Anarchisten, neben dem schon erwähnten Martin Buber den russischen Schriftsteller Leo Tolstoi. Nun, deren Religiosität bewegt sich noch in den herkömmlichen Bahnen der sogenannten jüdisch-christlichen abendländischen Kultur. Es gibt auch abgedrehtere Formen der Verbindung, aber das ist nicht so das Gebiet, mit dem ich mich befasse.
Dugin meinte, Hayek hätte sich in begrenzter Weise für den Erhalt der Tradition ausgesprochen. Und zum Teil kann man an Phänomenen wie dem japanischen Zaibatsu-System auch sehen, dass Liberalismus im begrenztem Maße auch helfen kann, Traditionen für die Nachwelt zu erhalten. Wie siehst Du das? Welche Möglichkeiten gäbe es?
SB: Liberalismus ist meines Erachtens weder für noch gegen Traditionen, sondern für Freiwilligkeit. Traditionalität zu erzwingen ist genauso falsch wie Veränderung zu erzwingen. Gesellschaftstheoretisch würde ich auf jeden Fall sagen, dass Traditionen eine wichtige Rolle spielen, positiv wie negativ. Aber ich nehme an, es ist keine Gesellschaft denkbar, in der Traditionen völlig beiseite gelassen werden. Radikale Versuche, Traditionen gewaltsam zu beseitigen, unternahmen etwa der Maoismus und die Roten Khmer. Die katastrophalen Folgen sind bekannt. Aber mehr noch: Eine genaue Analyse zeigt, dass sie sehr wohl an Traditionen anknüpften, wenn auch an die schlimmsten.
Eine Frage die mit der letzten Frage zu tun hat: Wie siehst Du die Möglichkeiten an, mit "liberalen" Methoden Widerstand gegen den Westen und seinen Dominanzanspruch zu leisten? Ein Beispiel wären z.B. die Jangmadang-Schwarzmärkte, mit denen Nordkorea die Sanktionen umgehen kann. Die Landvolk-Bewegung in Schleswig-Holstein hat in Weimar Widerstand geleistet, sowohl durch Steuerboykott, als auch indem man probiert hat, eine eigene Parallelwährung zu etablieren. Eigentlich alles sehr "libertäre" Ideen. Und in der momentanen Situation in der Geopolitik ist China eigentlich die wichtigste Stütze Russlands. China konnte aber nur dazu werden, weil Deng Xiao Ping seinen Kompromiss mit dem freien Markt geschlossen hat.
SB: Als erstes möchte ich anmerken, dass ich mich nicht ohne Weiteres dem Programm des Kampfes gegen "den Westen" anschließe. Wenn "der Westen" für Ideen steht wie Kapitalismus, individuelle Freiheit, Menschenrechte und so weiter, ist er eine befreiende Kraft. Insofern "der Westen" für den Imperialismus der USA steht, ist ihm tatsächlich Widerstand entgegenzusetzen, allerdings nicht mehr (und nicht weniger) als den imperialen Bestrebungen von Russland und China. Falls an die Stelle der Dominanz der USA die Dominanz etwa Chinas tritt, ist das nicht auch nur der kleinste Schritt in eine bessere Richtung, vermutlich sogar ein großer Rückschritt. Und sonst: Ja, es gibt das, was Du "liberale" Methoden des Widerstands genannt hast, Schwarzmärkte, Schwarzarbeit, Selbstorganisation und so weiter. Das ist ja das Konzept des "Agorismus", das Samuel Edward Konkin III entwickelt hat. Es stellt eine wunderbare Ergänzung des zivilen Ungehorsams dar, der von Henry David Thoreau und Mahatma Gandhi entwickelt wurde.
Kann es überhaupt sein, dass Nationen wie China irgendwie pragmatischer an die Sache ran gehen? Bei uns wird in den Medien immer ein Pathos geschoben, wie toll wir wären, weil wir dem und dem Rechte bringen. Gleichzeitig passiert hier eine zunehmende Überregulierung. Währenddessen konzentriert sich China eher auf wirtschaftliche Freiheit.
SB: Da ist eine Menge Heuchelei des Westens dabei, ganz klar. Aber selbst in Punkto wirtschaftliche Freiheit ist ja China weit weg von einem unregulierten Kapitalismus, wie ihn Ludwig von Mises konzipierte. Sicherlich ist das Zugeständnis der Volksrepublik China an die Märkte pragmatisch. Und es ist zu hoffen, dass die Leute ihre Freiheit so nutzen, dass sie schließlich das ganze Verbrecherpack an der Spitze mit entsorgen. Du hast die Jangmadang-Schwarzmärkte in Nordkorea erwähnt: Die kleinste Nische für den Markt bringt größte Fortschritte für den Wohlstand der Menschen.
Eine andere Frage ist nun Folgende. Um noch einmal auf das Thema Tradition zurück zu kommen. Wenn man sich die Tradition anguckt, und insbesondere den Konfuzianismus, der sehr explizit ist, fällt eines auf. Man hat so eine extrem starke Zivilgesellschaft, wo jeder ethische Pflichten gegenüber dem Anderen hat. Je nach seiner Rolle. Eltern müssen für ihre Kinder da sein. Kinder ihre kranken, alten Eltern pflegen. Reiche sollen wohltätig für die Armen tätig werden. Und so weiter. In so einem System braucht es keinen Staat der alles regelt und keinen Sozialstaat. Die Einzigen, die wirklich Probleme hätten, wären so die Parias, die aus der Gesellschaft gestoßen wurden. Und da stellt sich natürlich die Frage, ob das nicht unter Umständen berechtigt wäre. Und ob es nicht besser wäre, ein paar Parias zu haben, als einen liberalen Maximalstaat, der uns alle irgendwie zu Parias macht. Also wäre die Tradition doch der beste Freund des Minimalstaatlers, oder?
SB: Nein, das sehe ich nicht ganz so. Die Tradition hat sicherlich ihr Gutes. Aber die vorstaatliche Tradition ist weit weg. In vielen Fällen haben Tradition und Staat ein Bündnis geschlossen derart, dass der Staat die Tradition schützt, schützt vor Veränderungen, wenn die Menschen sich anders entscheiden. Es ist keineswegs weniger Staat, wenn der Staat die Tradition schützt, als wenn er sie bricht. Beides sind gewaltsame Eingriffe. Der Konfuzianismus hat zu einer extrem statischen Gesellschaft geführt, auch in wirtschaftlicher Hinsicht ist China erstarrt. Nur eine extreme Abschottung von äußeren Einflüssen konnte das System aufrecht erhalten. Das heißt nicht, dass es nicht auch gute Aspekte im Konfuzianismus gibt. Er hat durch den Ahnenkult die Staatsgewalt tatsächlich etwas begrenzt. Aber nicht wirkungsvoller als der Liberalismus. Es ist eine Illusion, dass der Staat sich begrenzen lässt. Sobald man ihm einen Finger gibt, will er die ganze Hand.
Kommen wir mal zum Lieblingsthema der Libertären: Steuern. Es geistert oft ein Argument umher, dass im Mittelalter eigentlich meist deutlich weniger Steuern gezahlt werden mussten, als heute. Beispielsweise gibt es im Islam die "Solidaritätsabgabe an die Gemeinde" , Zakat genannt, die ungefähr 2,5 Prozent der Einnahmen beträgt. Ich zahle pro Jahr DEUTLICH mehr als 2,5 Prozent und wäre mehr als dankbar, wenn man die Steuern so weit reduzieren könnte. Und selbst die amerikanische Revolution wurde wegen weniger Steuern geführt, als heute üblich sind. Woher kommt dieses Steuer- und auch Staatswachstum? Und warum haben Liberale, die ja sehr häufig an der Macht waren, dies nicht aufhalten können?
SB: Es gibt eine immanente Tendenz des Staats zum Wachstum, die von den politischen Überzeugungen der Handelnden ganz unabhängig sind. Ein Beispiel, das nicht bis ins Mittelalter zurückgeht: Ronald Reagan war angetreten mit dem Versprechen, die Steuern zu senken und den Staatshaushalt auszugleichen. In seiner Zeit als Präsident wurde die bis dahin höchste Neuverschuldung erreicht. Warum ist das so? Grob gesprochen gibt es zwei Tendenzen. Die erste Tendenz besteht darin, dass der Staat durch sein Handeln Probleme nicht löst, sondern neue Probleme schafft. Diese neuen Probleme müssen natürlich mit weiterem Staatshandeln angegangen werden, also gibt es die Notwendigkeit zu mehr Ausgaben und damit einhergehend zu mehr Einnahmen. Die zweite Tendenz besteht darin, dass die Unterstützung irgendeiner Interessengruppe durch den Staat unmittelbar dazu führt, dass weitere Interessengruppen sich melden, die auch bedacht werden wollen. Will man der ursprünglich begünstigten Interessengruppe nichts wegnehmen, was sicherlich zu Legitimationsproblemen führen würde, muss man den Staatshaushalt ausweiten.
Eine grundsätzliche Frage wäre auch die: Liberalismus will ja freie Geister und freie Menschen. Warum überwiegen dann auch in liberalen Staaten seit jeher die "rückgratlosen Deppen", die sich der Masse anschließen statt selbst zu denken? Und die jeden Mist mitmachen, egal ob Maskenpflicht, Impfung, Russland Hetze, erster Weltkrieg etc.? Müssten in erfolgreichen liberalen Gesellschaften nicht eigentlich die selbstdenkenden Freigeister dominieren? Und warum konnten illiberale Gesellschaften fast genau so viele Freidenker produzieren, wie die Liberalen. Wenn nicht sogar noch mehr? Selbst der Faschismus hatte durch Gabriele d'Annunzio, Ernst Jünger, Stefan George etc. eigentlich sogar mehr Freigeister als die heutige BRD. Und beweist die Frage nicht, dass im Liberalismus am Ende eigentlich das meiste schief lief?
SB: Obwohl historisch Liberalismus und Demokratie als eine Art Einheit erscheinen, ist es doch angebracht, sie zu unterscheiden. Beim Liberalismus ging es um die Begrenzung der Staatsgewalt, bei der Demokratie um die Art, wie die Staatsgewalt gelenkt wird. Es gab schon frühe Warnungen vor der totalitären Tendenz der Demokratie. Und in seinem Buch "Der Weg in die Knechtschaft" schreibt Hayek ausdrücklich, dass das demokratische Verfahren dazu dient, Menschen mit den schlechtesten Charakteren in die Top-Positionen zu bringen. Nebenbei bemerkt würde ich Ernst Jünger nicht unter die Faschisten einreihen. Er hatte eine sehr kurze Phase, wo er sich selbst als Nationalist missverstand. Aber das ist sicherlich eine andere Frage, die hier zu weit führt.
Beweist die Corona Krise momentan nicht, dass ein großer Teil der liberalen Theorie nicht funktioniert? Wir glauben, die Grundrechte und die Verfassung würden uns schützen. Aber seit Jahren haben wir jetzt ein System, was bei uns bis ins tiefste Privatleben eindringt und teilweise sogar verbietet, den Nachbarn zum Kaffeetrinken einzuladen. Und andere elementar menschliche Dinge. Es gibt Ansätze einer Dauerüberwachung. Demonstranten werden stellenweise brutal niedergeknüppelt und so weiter. Dient der Liberalismus nicht genau dazu, so etwas zu verhindern?
SB: Der Teil der liberalen Theorie, der versprochen hat, mit Verfassungen, Grundrechten, Parlamenten und so weiter die Freiheit zu schützen und den Staat einzugrenzen, ist gescheitert; er war von Anfang an falsch und eine böse Ideologie. Überhaupt ist der klassische Liberalismus in Hinblick auf die Staatstheorie bestenfalls blauäugig gewesen, schlimmstenfalls ein Instrument, um Herrschaft und Kolonialismus zu rechtfertigen. Gut war der klassische Liberalismus in Hinsicht der wirtschaftlichen Freiheit. Hier hat er viele Verdienste. Die Staatstheorie aber war eine Katastrophe.