Interview mit Stefan Blankertz Teil 2: Die Linke und das Erbe der 68er.

29.03.2022
Stefan Blankertz gilt als eines der "Gründungsmitglieder" der libertären Bewegung in Deutschland. Gleichzeitig gehört er zu den berühmtesten Gestalttherapeuten Deutschlands, einer sogenannten existenzialistischen Therapie, die sich mit dem Dasein beschäftigt. Ich habe ihn zu einigen Dingen betreffend Dasein, 4. politischer Theorie und Libertarismus befragt.

Kommen wir mal langsam zu einem anderen Thema. Der Linken. Im Gegensatz zu vielen Libertären, die so eine "Linke, igitt"- oder "Ab mit denen in den Helikopter"-Haltung aufweisen, bist Du im Bereich der politischen Linke sehr offen. Deutsche und französische neue Rechte haben sich an Projekte eines "Marx von Rechts" gewagt (und Limonow und Dugins Nationalbolschewisten müssen wir hier auch erwähnen). Du hast quasi als einziger Libertärer ein Pendant zu solchen Entwicklungen betrieben und ein Projekt "Marx von libertär" gestartet. Magst Du uns darüber etwas erzählen? Was waren da deine Beweggründe? Was kann man von Marx lernen? Welche neuen Erkenntnisse gewinnt man dadurch?

SB: Als ich jung war, war Marx allgegenwärtig. An der Uni Marburg konnte ich nicht promovieren, weil mir die in der Soziologie vorgeschriebenen Marx-Lektürekurse fehlten. Alles, was mit Marx zusammenhing, lehnte ich kategorisch ab. Heute ist Marx allerdings zu einem Gemeinplatz herabgesunken, in den jeder das hineininterpretieren kann, was er will. Die einen berufen sich auf Marx, der angeblich ein grüner Gutmensch war und bewiesen habe, dass der Kapitalismus die Umwelt zerstöre und durch den Sozialstaat in die Schranken gewiesen werden müsse; die anderen werfen Marx vor, die Ursache für die Zerstörung der Familie und allen heiligen Werten zu sein. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich dachte, es sei angebracht, nachzuschauen, was denn nun tatsächlich bei Marx zu finden ist. Und ich war, ehrlich gesagt, sehr überrascht, zunächst über das, was bei ihm nicht zu finden ist: Irgendein gutes Wort über den Staat. Einen Hinweis darauf, der Staat solle dies oder das tun – ausgenommen die zehn berühmten Forderungen im "Kommunistischen Manifest", die von Engels sind und die Marx später jede einzelne widerrufen hat. Was man dagegen bei Marx findet, ist eine ungeheure Hochachtung vor dem, was der Kapitalismus geleistet hat, vor den Leistungen der Bourgeoisie, Hunger und Elend überwunden zu haben. Das wichtigste, was wir von Marx lernen können, und was auch heute noch gilt, ist, dass der Staat Ausdruck bestimmter ökonomischer Interessen ist, Interessen, die sich ohne Staat nicht durchsetzen lassen. Die politische Geschichte ist nach Marx der Kampf zwischen den Enteignern und den Produzenten. Das hat er Klassenkampf genannt. Die Enteigner – Stichwort: Steuern sind Raub – gefällt das natürlich nicht, sie fühlen sich ertappt.

Dir als Libertärer ist die Freiheit besonders wichtig. Wie unterscheidet sich die linke Freiheit von der liberalen Freiheit. Wie kann man es verbinden? Was ist besser bei beiden und wo?

SB: Die Linken haben wie die Rechten eine inhaltliche Füllung der Freiheit. Freiheit ist, wenn die Leute so entscheiden, wie es die Linken – respektive die Rechten – für richtig halten. Ganz platt ausgedrückt ist für die Linken eine freie Wahl, wenn Trump nicht gewählt wird, für die Rechten eine, in der man Trump wählt. Ich nenne das "totalitäre Inhaltlichkeit": Die Leute dürfen genau in der Weise entscheiden, wie es der politischen Korrektheit der jeweiligen Richtung entspricht. Das ist natürlich pure Unfreiheit. In der liberalen Freiheit dagegen regiert das "anything goes", alles ist erlaubt, was die Freiheit eines anderen nicht beschränkt. Es gibt meines Erachtens keine Gemeinsamkeit zwischen der inhaltlichen und der formalen Begründung der Freiheit. Die inhaltliche Definition der Freiheit tendiert immer zur Bevormundung, zum Totalitarismus.

Du hast früher mehrfach darauf hingewiesen, dass es bestimme Überschneidungspunkte zwischen bestimmten marxistischen "Anti-Regierungs-Einstellungen" und den Libertären gibt. Beispielsweise hat Marx mal zum Steuerboykott aufgerufen. Auch der Gründer Nordkoreas, Kim Il Sung, hat ein 10-Seiten-Pamphlet gegen Steuern geschrieben und Steuern als Weg beschrieben, wie die "nutzlose Beamtenkaste" die arbeitende Bevölkerung ausplündert. In den USA scherzen viele, dass man so eine Aussage eher von ’nem Libertären erwartet hätte. Was denkst Du über solche Berührungspunkte? Was kann man dadurch lernen? Kann man durch so etwas zu einer Position kommen, die Jenseits der starren politischen Ideologie liegt? Gibt’s da was, was ich vergessen hab?

SB: Nun, Rothbard hat einmal darauf hingewiesen, dass für den Libertären nicht die Höhe der Steuern, sondern die Höhe der Staatsausgaben ein entscheidender Faktor seien. Wenn ein Staat hohe Staatsausgaben bei niedrigen Steuern hat, muss er die Einnahmen aus anderen Quellen schöpfen, die nicht Steuern heißen, aber eine äquivalente Enteignung bedeuten. Der nordkoreanische Staat tätigt Ausgaben, also muss er die Mittel dafür den Produktiven enteignen. Ob das Steuern genannt wird oder nicht, ist einerlei für das Faktum. Zudem ist die Steuerhöhe nicht das einzige Maß für den Staat. Der Staat kann auch repressive Dinge tun, die relativ wenig kosten: Viele Regulierungen der Wirtschaft, des sozialen und privaten Lebens kosten nicht viel außer das Gesetzgebungsverfahren und die Überwachung, und sind doch entscheidende Hindernisse der Freiheit.

Kommen wir jetzt zum Thema Alt-68er-Generation. Da hast du dich ja auch stark mit beschäftigt und dieses Ereignis hat Dich sehr geprägt. Was denkst Du über diese Ereignisse und was man heute da lernen kann?

SB: Die 68er hatten eine Janusgestalt. Auf der einen Seite war es ein Aufbegehren gegen staatliche Bevormundung und gegen den Krieg, auf der anderen Seite herrschte aber auch das, was ich als "totalitäre Inhaltlichkeit" bezeichnet habe. Man wollte etwa, dass der Staat freie Schulalternativen zulässt, aber sie sollten bitteschön hübsch antiautoritär sein. Wenn dann Eltern Schulen gründeten, die nicht in dieses hippy-linke Schema passten, wollte man doch lieber auf den Staat zurückgreifen, um die favorisierten Methoden durchzusetzen. Das ist die wichtigste Lehre: Der Kampf um die Freiheit muss fabenfroh sein, aber man muss auf die "totalitäre Inhaltlichkeit" verzichten.

Alain de Benoist beschrieb die 68er als "Zwiegespalten" oder eher "Trigespalten". Es gab die Marxisten. Es gab die Leute, die quasi die Gesellschaft von Grund auf neu denken und all die frühere Heuchelei und Scheinheiligkeit beenden wollten, um zu etwas Natürlicherem, Authentischeren und Organischeren zu kommen. Und dann gab es quasi die Idioten, die nur ihren eigenen Hedonismus ausleben wollten. Und leider haben die dummen Leute gesiegt. Wie siehst Du das. Hat Alain de Benoist Recht?

SB: Das hört sich erstmal so ähnlich an, wie das, was ich über die "Janusgestalt" der 68er nenne. Wobei mir die Hedonisten bedeutend lieber sind als die maoistischen Asketen, die sich den Fanatismus auf die Fahnen geschrieben haben und tatsächlich die Massen beherrschen wollten. Das ist ihnen allerdings zunächst nicht gelungen. Die taktisch versierten sind in der Bewegung der Grünen aufgegangen und die realisiert jetzt die umfassende Bevormundung durch die neuen Puritaner.

Wo unterscheidet sich die 68er-Linke von anderen linken Denkweisen? Was machten die besser und was machten die schlechter?

SB: Vielleicht ist der Hedonismus genau der Punkt des Unterschieds. Die alte Linke war extrem puritanisch. Die neue Linke predigte die individuelle Befreiung. In diesem Sinne ist die heute alt gewordene neue Linke keineswegs die ideologische Quelle für die heutige grünlinke Bewegung, die eher der alten Linken ähnelt, wenn auch mit anderen Inhalten. Bei der alten Linken ging es um die Dominanz der Produktion, besonders um den Vorrang der Schwerindustrie, bei den grünen Linken um die Beschränkung der Produktion.

Mit den 68ern war der Freudomarximus verbunden. Leute wie Wilhelm Reich oder die Frankfurter Schule. Was kann man von denen lernen.

SB: Die Verbindung von Freud und Marxismus ist auf jeden Fall spannungsreich, aber gerade darum so spannend. Dass die Unterdrückung nicht nur ökonomischen, sondern auch psychologischen Charakter hat, macht überhaupt erst möglich, über Befreiung nachzudenken. Adorno zum Beispiel hatte begriffen, dass Herrschaft über die Identifikation mit dem Kollektiv läuft; und dies brachte ihn in scharfen Gegensatz zu allen Marxisten, die den Massen huldigten und die das Heil in "Kollektiven" sahen. Oder nehmen wir Wilhelm Reich. Er wurde gerade wegen seines Buches "Die Massenpsychologie des Faschismus" 1933 aus der KPD ausgeschlossen und entwickelte sich dann sogar zum Antikommunisten, weil er die gleichen Strukturen in der kommunistischen Bewegung erkannte wie er sie in der faschistischen Bewegung analysiert hatte.

Ich persönlich hatte den Eindruck, Wilhelm Reich aber auch Leute wie Georges Battaile haben sehr gut die Idee des Individuums dekonstruiert und gezeigt, dass der Mensch auf einen Seite einen gewissen "tantrischen" Drang hat, sich in der Ekstase und dem Exzess selbst aufzulösen. (Freud selbst hatte sowas ja auch etwas mit seinem Begriff des "ozeanischen Gefühl" beschrieben.) Auf der anderen Seite das "Individuum" im Geist oft auf Neurosen und Dingen wie dem Charakterpanzer basiert und nicht auf echtem Freiheitswillen. Dass da ein neurotischer Willen zur Abgrenzung besteht. Der Nachbar wird als Konkurrent und potenzielle Bedrohung gesehen, statt als jemand, den man braucht. Sehe ich das falsch oder ist da was dran? Und falls ja, wie überwindet man diese eigenen Zwangsneurosen und kommt zu einem besseren Miteinander?

SB: Die Dekonstruktion des Individuums bei Reich oder Freud, die Du ansprichst, ist zugleich sehr individualistisch. Das ist ein gutes Beispiel für Dialektik. Denn Reich und Freud behielten ja das individuelle Glück, die individuelle Befriedigung als Ziel im Auge. Sie sagten nicht: Der Einzelne und sein Bedürfnis sind nichts, die Masse ist alles, wie es die faschistischen und kommunistischen Massenbewegungen taten.

Bei diesem Thema der Auflösung in der Ekstase kam es oft auch zu gewissen Rückbezügen ins Religiöse. Georges Battaile war sehr auffällig in dem Bereich. Terence McKenna war quasi da eine Art linkes Pendant zum Traditionalismus à la Evola. Und Wilhelm Reich wurde auch durch Okkultisten wie Kenneth Grant zitiert, um bestimmte religiöse Praktiken zu erklären. Wie kam es zu dieser "unabsichtlichen Wiederentdeckung des Religiösen"? Und wie verfährt man damit?

SB: Bei Wilhelm Reich ist es ja so, dass er selber sich als strenger Naturwissenschaftler sah. Weil seine Erkenntnisse aber so pauschal abgewiesen wurden, wurde er zu einem gefundenen Fressen für Esoteriker. Das war nicht, was er beabsichtigt hatte. Er sah alles Religiöse im Dienst der Unterdrückung stehen – was ich so nicht unterschreiben würde; wie sonst könnte ich mich stark auf Martin Buber stützen? Das religiöse Gefühl hat auch eine Janusgestalt. Einerseits stärkt es das Selbstbewusstsein des Individuums ebenso wie den Zusammenhalt einer Gemeinschaft. Andererseits schlägt es schnell in Phantasien der Bevormundung um, in Verfolgung der Andersgläubigen, in Bestrafung der vom Glauben Abfallenden. Den positiven Aspekt der Religion zu bewahren und sich vor dem impliziten religiösen Terrorismus zu hüten, ist eine heikle Aufgabe; eine einfache Antwort darauf habe ich nicht.

Und um jetzt wieder zu etwas Schwierigerem zu kommen: Das, was Dugin den "Liberalismus 2.0" nennt. Also die Grünen oder die US-Demokraten, die sich als die Erben von 68 ansehen. Chinesen nennen solche Leute mittlerweile auch "Baizuo", was aber auch sinngemäß sowas wie "Depp" bedeutet. Wie konnte DAS bitte passieren? Was ist da falsch gelaufen? Sind wir, wie manche im rechten Lager meinen, Opfer eines großen "kulturmarxistschen" Komplotts geworden? Sind die korrupt geworden? War die CIA im Spiel (wie es z.B. Hadmut Danisch mehrfach vermutet hat)? Haben denen die Drogen aufs Hirn geschlagen? Ist alles gleichzeitig passiert? Oder was ganz anderes?

SB: Hier empfehle ich einen Rückgriff auf Marx. Die Politik des Staats steht im Dienst von hauptsächlich ökonomischen Interessen. Alle Analysen, die die Politik nach ihrer ideologischen Ausrichtung untersuchen, halte ich für fragwürdig. Ideologie dient der Verschleierung der ökonomischen Interessen. Die Entwicklung der staatlichen Politik folgt nicht der Ideologie, sondern den Sachnotwendigkeiten der ihr zugrundeliegenden ökonomischen Interessen. In diesem Sinne hat auch "die CIA" nicht ein ideologisch geleitetes Interesse, sondern sie sie einerseits Agentur, um die ökonomischen Interessen, die den Staat beherrschen, zu schützen; andererseits hat sie natürlich auch eine ökonomisches Eigeninteresse, nämlich sich selber zu erhalten und womöglich zu vergrößern. Die grünen Ideen wie auch andere Ideen der Neuen Linken haben sich, wie eben besprochen, außerhalb des Staats und teilweise auch gegen den Staat entwickelt, sie waren auf individuelle Selbstverwirklichung, auf Dezentralisation gerichtet. Ökologie hieß damals: die kleine, sich selbst verwaltende Einheit. Das hat den Staat massiv delegitimiert. Das Angebot, das der Staat diesen Leuten gemacht hat, lautete: Wenn ihr an die Schalthebel der Staatsgewalt kommt, werdet ihr eure Ideen durchsetzen können und zwar auch gegen den Widerstand weiter Teile der Bevölkerung. Dass sich die Teile der 68er, die nicht in Richtung Libertarismus gegangen sind, darauf eingelassen haben, ist auf ihre "totalitäre Inhaltlichkeit" zurückzuführen. In meinem Verständnis ist es abwegig, dies in irgendeiner Weise "Liberalismus" zu nennen.

Während die 68er kritisch gegenüber Dingen wie Mainstream Psychiatrie, NATO, Staatsschule, Medienpropaganda des Staates, Militär etc. waren, scheint es so, als lieben die heutigen Grünen all die Sachen inbrünstig, die ihre Vorgänger inbrünstig bekämpft haben. Wie kam es bloß zu diesem Sinneswandel?

SB: Genau das ist es, was ich für entscheidend halte, um es zu analysieren. Die Aussicht, im Besitz der Macht sich durchsetzen zu können, hat alle Sicherungen durchbrennen lassen.

Die 68er schienen auch eher so eine Art "der Staat und die Gesellschaft machen es nicht richtig. Wir müssen es selbst machen"-Einstellung zu haben, was man an Dingen wie freien Schulen, Kinderläden etc. sehen konnte. Heute scheinen Linke sich in ihrer Hilflosigkeit zu suhlen und auf "Vater Staat" zu warten. Woher kommt dieser Wechsel?

SB: Die Neuen Linken haben die Erfahrung gemacht, dass die Leute mit der Freiheit nicht das anstellen, was sie selber für richtig halten. Manche Eltern wollten in den freien Schulen nicht antiautoritäre Methoden, sondern straffen Unterricht. Manche wollten nicht freie Liebe und freien Geist vermittelt sehen, sondern religiöse Ideale. Weil die Neuen Linken der "totalitären Inhaltlichkeit" verhaftet waren, wollten sie das nicht dulden, nicht tolerieren.

Eine Frage, die damit was zu tun hat. Man kennt, wie sich Linke in den letzten Jahren inbrünstig für Milliardäre wie Bill Gates oder George Soros aussprachen. Das widerspricht der Linke eigentlich hoch 10. Und teilweise sieht es mittlerweile so aus, als wären selbst die Libertären milliardärs-kritischer als die Linke. Wie wurden ausgerechnet die Linken zum Milliardärs-Fanclub?

SB: Das ist eine gute Frage. Es gibt einen engen Packt von gewissen Milliardären mit den jeweiligen Staaten, durch welche sie hervorgebracht wurden. Wer sich mit der jeweiligen Staatspolitik identifiziert, identifiziert sich auch mit den Milliardären, die der Politik folgen, und kritisiert Milliardäre, die nicht ganz konform gehen. Die Verfeindungstendenz der Politik durchdringt alles: Es kommt nur darauf an, auf der richtigen Seite zu stehen.

Einige Leute wie z.B. Jordan Peterson beschreiben den Eindruck, dass viel von dem "seltsamen Soziologen-Schwachsinn" wie Intersektionalität eine Art "dümmlicher Versuch" ist, den Klassenstandpunkt an die Norm des liberalen Individualismus anzupassen. Dass man quasi den Menschen so lange in unterschiedliche Täter/Opfer-Relationen zerlegt, bis am Ende der Einzelmensch raus kommt. Wie bewertest Du solche Entwicklungen?

SB: Da geht meines Erachtens alles mögliche durcheinander. Erst einmal ist der Begriff der "Intersektionalität" keineswegs Schwachsinn oder dümmlich. Es ist durchaus möglich und sinnvoll zu betrachten, dass eine Person Gegenstand verschiedener Arten von Diskriminierung oder Stigmatisierung ausgesetzt sein mag. Jemand kann etwa (um ein parodistisches Beispiel zu nennen) als Jude und als Holocaustleugner stigmatisiert werden, und zwar von verschiedenen, von unterschiedlichen Seiten aus. Beides kann auf ihn wirken. Oder eine Person erfährt als lesbische Frau und als AfD-Vorsitzende sich überschneidende, also intersektionelle Diskriminierung, eine andere als schwarzer Mann und AfD-Kandidat. Zudem halte ich die Gleichsetzung von Diskriminierung-Fragen mit dem marxistischen Klassenstandpunkt für höchst fragwürdig. Ich denke, dies kommt einfach daher, weil bestimmte Leute an einer Vereinfachung interessiert sind: Alles, was mir nicht passt, schmeiße ich in einen Haufen. Und man denkt, gegen Klassenkampf sind heute alle, also nenne ich die Diskriminierung-Frage "Klassenkampf", dann habe ich die Leute auf meiner Seite. Das geht natürlich nicht auf. Kritik ist nur dann sinnvoll, wenn sie differenziert vorgeht.

Ein anderer Aspekt dieser Entwicklungen wie Intersektionalität scheint zu sein, dass die Linken scheinbar eine Art "Psychiartriestaat" anstreben, wo man technokratisch diagnostiziert wird, wo man Probleme hat und wo man überall angeblich diskriminiert wird, nur damit der Staat einem irgendwelche Pseudohilfen andreht. Woher kommt diese Entwicklung und wie kann man das stoppen?

SB: Die Entwicklung zum Psychiatriestaat und die Kritik an dieser Entwicklung ist älter als die Machtübernahme der Linken. Siehe die Schriften von Foucault und von Thomas Szasz. Es handelt sich um eine Entwicklung des Staats, die unabhängig von den Ideologien läuft, die den Staat treiben. Der Faschismus hat die Psychiatrisierung vorangetrieben, der Staatskommunismus ebenso wie die demokratischen Staaten. Die Rechten schreien nach Psychiatrisierung ebenso wie die Linken. Es handelt sich einfach um ein Instrument der Gleichschaltung, der Ausschaltung des Anderen.

Während bei uns die Grünen eigentlich ziemlich zum Kotzen sind, scheint das "Erbe der 68er" in anderen Bewegungen auf extrem fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Eduard Limonows Strategie, soziale Außenseiter vom Straßenpunk über radikale Waffennarren bis zum "Sektenspinner" zu sammeln. Seine Anarcho-Fantasien autonomer Kommunen und seine Beschimpfung für Regierung Schulsystem etc. Das alles klang immer deutlich mehr nach "klassischem Alt-68er-tum", als das, was die Grünen bei uns abziehen. Alain de Benoist hat auch einiges von den 68ern gelernt. Und selbst Sachen, wo in den USA Alt Right Anhänger auf Demos "Pi no chet" skandierten, erinnerte stark an "Ho Ho Ho Chi Minh". Kann es sein, dass das Erbe der 68er eher durch andere Bewegungen fortgeführt wird, und nicht durch die Linke selbst?

SB: Ein weiteres Beispiel wäre der "Sturm aufs Kapitol" nach Trumps Wahlniederlage, der eher an eine Hippy-Aktion von 1968 erinnerte als an einen Staatsstreich nach dem Muster eines Generals Pinochet. Und die Frage lautet: Macht dieses "68 von rechts" genau das gleiche falsch, was damals das linke 68 falsch machte, nämlich in die "totalitäre Inhaltlichkeit" zu verfallen. Was tun sie, wenn die Leute, die sie befreien, nicht so handeln, wie sie es gern hätten? Greifen sie dann doch auf Staatsgewalt zurück? Dass diese neuen rechten Hippies wie die alten linken Hippies nichts vom Liberalismus halten, lässt mich eher Düsteres ahnen.

Kritiker der Grünlinken, sowohl in unserem Lager, als auch bei den sogenannten "Tankies" meinen oft, die Linken haben ihren Klassenstandpunkt verraten und denen scheint es wichtiger zu sein, dass z.B. ein reicher Homosexueller keine fiesen Witze erdulden muss, als das Leute in Armut leben. Einige dieser Linke scheinen mit Begriffen wie "White Trash" oder "Abgehängte" sogar einen richtigen Hass auf die arme Bevölkerung zu schieben. Der Trucker-Protest in Canada, wo es auch um wirtschaftliche Unsicherheit ging, wurde auch von heutigen Linksliberalen meist beschimpft, während Libertäre, oder Leute wie Dugin oder Martin Sellner das gefeiert haben. Und Trump war nicht nur wie es Dugin oder Michael Anton beschrieben, ein "Kampf" der klassisch liberalen gegen die Grünliberalen, sondern auch eine Art Aufstand der armen Leute an Orten wie Detroit und dem sogenannten Rust Belt gegen die Elite. Irgendwie scheinen selbst Libertäre mehr für die Rechte der Armen zu kämpfen als die Grünlinken. Woher kommt das? Und haben sich eher die Liberalen zum Besseren gewandelt, oder die Linken zum Schlechteren?

SB: Erst einmal müssen wir zwischen den us-amerikanischen "liberals" unterscheiden, die Sozialdemokraten sind, und den klassisch Liberalen. Die "liberals" haben sich in einer erschreckenden Weise radikalisiert in Richtung auf noch mehr Staatsgewalt. Sie reden zwar immer noch gern davon, den Armen helfen zu wollen, aber alle ihre Maßnahmen schaden den Armen. Nach dem Muster der politischen Verfeindungstendenz entsteht eine demokratische Gegenkraft, die man heute als rechtspopulistisch stigmatisiert und für die Donald Trump eine Identifikationsfigur ist. Doch der Sinn besteht nicht darin, den Armen oder Ausgegrenzten oder sonst wie durch die Staatsgewalt Geschädigten wirklich zu helfen, vielmehr darin, ihren Protest in das demokratische System zu integrieren und damit unschädlich zu machen.

Ein weiteres Thema ist das Thema Corona-Krise. Bis auf wenige Ausnahmen wie Agamben oder Sarah Wagenknecht, kam da von der Linke ja gar nichts oder man hat enthusiastisch die Gesundheitsdiktatur gefeiert. Obwohl das linken Klassikern wie Foucault komplett widersprach. Gleichzeitig haben sich sowohl einige Libertäre, als auch Rechte und Leute wie Dugin auf Foucault und seine Kritik der Biomacht gestürzt. Wie siehst Du diese Situation? Warum haben die Linken so reagiert?

SB: Wer sich im Besitz der Macht wähnt, übt keine Kritik. In der Zeit, als Foucault schrieb, war es der Endkampf der Nachkriegs-Konservativen um die Macht. Sie hielten sich für die staatstragende Kraft schlechthin, die Linken waren die Zersetzer. Allerdings stand Foucault schon an der Kippe und es gab bereits damals Stimmen, die ihn den Rechten zuschlugen. Heute ist die Lage umgekehrt. Die Linken sehen sich im Besitz der Macht, lehnen Kritik ab, die Rechten üben Kritik am Staat. Aber man muss, wie gesagt, aufpassen, ob sie wirklich das Prinzip der Staatsgewalt kritisieren oder nur die Tatsache, dass sie selber nicht im Besitz derselben sich befinden.

Und noch die Frage: Wie siehst Du die wenigen linken "Abweichler" wie Sahra Wagenknecht? Sind das Hoffnungsträger, oder Leute, die man eigentlich auch vergessen kann?

SB: Sahra Wagenknecht kritisiert bestimmte Aspekte der gegenwärtigen Gesundheitsdiktatur und der grünen Bevormundung, weil sie ihrer Klientel, den altlinken Wählern der spießigen SED in die Quere kommen; aber kritisiert sie die Staatgewalt? Oder will sie sie nur anders eingesetzt wissen?

Ein "Nachfolger" neulinken Gedankenguts, der bei der Corona-Krise an Bedeutung erlangt hat, ist der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der davor warnte, dass es im modernen Staat die gefährliche Tendenz gäbe, entweder bestimmte Gruppen oder gleich alle Bürger zum entmenschlichten "nackten Leben" zu erklären und diese quasi zu "staatlich kontrollierter Biomasse" zu machen, bei denen es nur noch um die Frage des staatlich geschützten Überlebens oder deren staatlich bestimmter Ausrottung geht. Was denkst du über diese Gefahr der Biopolitik?

SB: Biopolitik ist ein stark faschistisches, nationalsozialistisches Projekt und in dieser Hinsicht sind die heutigen Tendenzen eindeutig faschistisch. Aber auch die Schaffung des "neuen Menschen" für den Kommunismus trug biopolitische Züge. In den USA und Kanada haben demokratische Staaten Biopolitik gegen die Indianer geführt, ihnen die Kinder weggenommen; sie haben unliebsame Menschengruppen zwangssterilisiert und medizinische Versuche an Menschen vorgenommen, ohne diese darüber zu informieren. Foucault war es, der darauf hingewiesen hat, dass das moderne Gefängnis, weit davon entfernt, Kriminalität zu reduzieren, der Formierung des Körpers und der Zurichtung der Seele diene. Dies alles ist der Staatsgewalt tief in die DNA eingeschrieben. Es ist nichts genuin linkes, genuin rechtes, es ist eben einfach Staatsgewalt.

Ein Aspekt der Grünen, den Dugin erwähnt hat, ist, dass diese irgendwie in Allem und Jedem den wiederauferstandenen Hitler zu sehen scheinen. Selbst Treffen der Hayek-Clubs wurden schon durch die Linken behandelt, als seien das die neuen "konspirativen Treffen im Bürgerbräu-Keller". Woher kommt nun eigentlich deren Hitlerbesessenheit?

SB: Es handelt sich meines Erachtens um eine rhetorische Figur: Man setzt den Gegner mit dem gleich, was alle umstandslos ablehnen. Wenn man sagt: "Hayek hat etwas gesagt, das ich ganz und gar ablehne", dann reagiert der Angesprochene mit: "Na sowas? Was soll’s?" Wenn man dagegen sagt: "Hayek ist im Grunde genommen Nazi", dann bekreuzigen sich alle und beeilen sich, sich zu distanzieren. Doch wie alle rhetorischen Mittel, die im Übermaß und zur Unzeit angewandt werden, nutzt auch diese sich schnell ab.

Wir haben jetzt sehr lange darüber geredet, dass die Kombination aus Liberalismus und alt-68er neuer Linke bei Grünen und Co eher katastrophal war. Du kombinierst aber auch liberale Elemente mit Ideen der neuen Linke. Was machst Du besser? Was hast Du persönlich aus dem grünen Fiasko gelernt?

SB: Meines Erachtens machen den Liberalismus seine nicht-liberalen Elemente erst katastrophal. Die Liberalen haben sich historisch verbunden etwa in Deutschland mit den Nationalisten und in England mit den Kolonialisten. Die von dem Vater des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon, den Liberalen hingehaltene Hand haben sie dagegen ausgeschlagen. Die 68er und ihre Nachfahren, die die Macht übernommen haben, kombinierten den etatistischen Anteil des Liberalismus mit ihrer eigenen "totalitären Inhaltlichkeit". Sie haben Inhalte, die sie mit Gewalt durchsetzen wollen. Ich dagegen plädiere für eine Kombination der anti-etatistischen Anteil des Liberalismus mit den Anteilen der 68er-Linken, die auf Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, auf Dezentralität gerichtet waren. Das ist die libertäre Koalition.