Interview mit Stefan Blankertz Teil 1: Gestalt und Dasein
Erstmal vorab, Danke, dass Du Dir die Zeit genommen hast, um mit unserer Seite zu reden.
SB: Sehr gern.
Du bist ja im Bereich der Libertären tätig und diese hatten bei uns gewisse Berührungsängste (und laut einem gewissen "Oliver Janich", den Du kennst, sind wir ja angeblich Teil der "jüdischen Weltverschwörung").
SB: Na, da können wir uns gegenseitig für diese Auszeichnung gratulieren. Ich wusste nicht, dass mir sie zuteil geworden ist, und werde versuchen, mich ihrer würdig zu erweisen.
Mit Wir war nicht „Du und Ich“ gemeint, sondern die Seiten hier, für die Ich Dich befragt hab. Auf unserer Seite gab es bisher auch ab und zu so gewisse Berührungsschwierigkeiten mit den Libertären. Außerdem kommt der Text wahrscheinlich bald übersetzt nach Holland und Frankreich. Da deshalb wahrscheinlich ein großer Teil unserer Leser nie von Dir gehört hat, bitte ich dich darum, Dich mal kurz vorzustellen und auch zu beschreiben, wie dein Verhältnis im deutschen Libertarismus so ist.
SB: Ich bin Anarchist seit über 50 Jahren. 1980 brachte ich nach einem Besuch bei Verwandten in Kalifornien Murray Rothbard im Gepäck mit. Seitdem verbreite ich die Ideen des Anarchokapitalismus und Libertarismus im deutschsprachigen Raum und entwickle die Theorie weiter.
Kommen wir erstmal zum wahrscheinlich wichtigsten Thema. Dem Dasein. Du bist Anhänger der Gestalttherapie, einer der sogenannten existenzialistischen Psychotherapien. Damit bist Du erstaunlich nah an Dugins Konzept des Daseins. Kannst Du kurz beschreiben, was Gestalttherapie ist und welche interessanten Methoden diese nutzt und wie man diese Ideen im Kontext einer politischen Theorie anwenden könnte?
SB: Gestalttherapie setzt für den Heilungsprozess auf Gegenwart (statt auf Analyse der Vergangenheit) sowie auf Dialog und Beziehung (statt auf von den beteiligten Personen losgelösten Methoden und starren Verfahren). Das Ziel ist die Stärkung der Kraft des Individuums, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen statt fremdgesteuert zu sein. Von hier aus ergibt sich ein starker sozialer, um nicht zu sagen politischer Bezug. Wesentlich mitentwickelt wurde die Gestalttherapie von dem (linken) Anarchisten Paul Goodman. Er war in den 1940er und 1950er Jahren ziemlich verzweifelt über die Konformität der Leute, die sich alles gefallen und von oben vorgeben lassen. Bevor sich etwas ändern kann, stellte er fest, müssen die Leute erst einmal wieder spüren, dass es anders möglich wäre, dass sie etwas entscheiden könnten, dass die Verhältnisse, in die sie sich fügen, sie krank oder zumindest unglücklich machen.
Welche Bücher würdest Du als Einführung in die Gestalttherapie empfehlen?
SB: Mit dem Leiter des Kölner Gestaltinstituts, Erhard Doubrawa, habe ich eine "Einladung zur Gestalttherapie" geschrieben, das inzwischen soetwas wie ein Klassiker geworden ist. Es enthält konkrete Fallbeispiele und wie der Therapeut darauf eingeht sowie eine Skizze der Theorie inklusive der politischen Aspekte. Natürlich ist es am besten, das Ursprungsbuch "Gestalt Therapy" von Fritz Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman zu konsultieren, erstmals 1951 erschienen. Beide deutschen Übersetzungen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen.
Wie siehst Du Gestalttherapie in Relation zu anderen Schulen der Psychologie? Was macht Gestalttherapie besser und wo sind Probleme?
SB: Der Begriff "Gestalttherapie" leitet sich von der deutschen Gestaltpsychologie ab. Eine enge Verbindung besteht auch zur Psychoanalyse, sowohl Fritz Perls und seine Frau Laura, gewissermaßen die Eltern der Gestalttherapie, waren ausgebildete Psychoanalytiker. Einer der Autoren des Buches "Gestalt Therapy", Ralph Hefferine, war Behaviorist. In der nachfolgenden Entwicklung hat sich eine starke Verbindung zum Zen-Buddhisnus und zu der Dialog-Philosophie des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber ergeben; Buber war, nebenbei erwähnt, auch Anarchist. Von daher ist die Gestalttherapie in ihren psychologischen und philosophischen Wurzeln breit aufgestellt. Allerdings gibt es auch Tendenzen der Verwässerung. Der sogenannte systemische Ansatz in Therapie und Beratung hat es viel besser verstanden, sich in den herrschenden gesellschaftlichen Institutionen zu etablieren. Der Ansatz hat immer eine Lösung für alle Probleme bereit. Die Gestalttherapie fordert dagegen dazu auf, das der Klient die Lösungen selber findet. Der Therapeut unterstützt. Das ist mühsamer und das ganze offizielle Gesundheitssystem basiert auf der Idee des Reparaturbetriebs, nicht auf der der Selbstverantwortung. Das Problem der Gestalttherapie ist zugleich ihre Stärke: Sie ist nicht mit dem offiziellen Gesundheitssystem kompatibel. In der Situation greifen manche Gestalttherapeuten dann gern auf das doch stromlinienförmigere Verfahren der Systemiker zurück.
Dugin fordert eigentlich dazu auf, dass das Konzept des Daseins die Subjekte der drei Theorien der Moderne (Individuum für die Liberalen, Klasse für die Kommunisten, und Nation/Rasse für die Nationalisten/Faschisten) überwinden sollte. (Dasein hat Aspekte die den Einzelmenschen betreffen, bezieht aber sehr stark den Mitmensch und die Umwelt als formende Kräfte mit ein.) Du nutzt existenzialistische Konzepte, aber sprichst dich wiederum dafür aus, das Individuum als Leitidee beizubehalten. Warum?
SB: Das Individuum ist zweifellos das Agens, das denkt und entscheidet. Selbstverständlich denkt und entscheidet das Individuum innerhalb eines sozialen und historischen Kontextes, oder, wie in der Gestaltpsychologie gesagt wird, innerhalb eines Feldes. Doch es ist wiederum das Individuum, das eine solche Beeinflussung durch das Umfeld reflektieren kann. Aber es ist völlig klar, dass es sinnlos ist, vom Individuum ohne dessen Verhaftetsein in Biologie, Geographie, Gesellschaft und Tradition zu sprechen. Wenn das Individuum denkt, entscheidet und reflektiert, von welchen äußeren Bedingungen sein Handeln abhängt, so tut es das beispielsweise in einer Sprache, die sein Denken sowohl ermöglicht als auch begrenzt, einer Sprache, die es vorfindet, die es nicht schafft, wenn auch seinerseits wiederum beeinflusst (das allerdings geringfügig). Auch in einer zweiten Hinsicht schränke ich die Formulierung ein, das Individuum sei meine Leitidee: Ich knüpfe nämlich an französische Phänomenologe Emmanuel Levinas, der eine gewisse Rolle in der Gestalttherapie spielt, und der meines Erachtens eine im Libertarismus spielen sollte, aber es leider noch nicht tut. Levinas sagt, dass das Problem immer darin bestehe, dass das Ich, das Individuum, wenn man so will, den Anderen sich gleich machen wolle und mit Eliminierung drohe, falls der Andere sich der Gleichmachung widersetze. In der Tat ist es meine Auffassung, dass der Kern des Libertarismus nicht die Entfaltung, sondern die radikale Einschränkung der Macht des Individuums ist: Das Individuum darf sich eben den Anderen nicht verfügbar machen.
Zum Thema des Individuum auch noch eine eher harte Frage. Kann es sein, dass das Individuum der liberalen politischen Theorie paradoxerweise nicht der "Einzelmensch" als solches ist, und die liberalen Staaten den Einzelmenschen nicht wirklich sehen. Sondern stattdessen die Idee des "Individuum" im Kontext des Staates mehr eine Fiktion ist, mit welcher der Staat seine eigene Existenz rechtfertigt? Siehe Menschenrechte. Meistens wird es ja im Liberalismus so gesehen, dass illiberale Staaten schlecht seien, weil dort die Menschenrechte nicht geschützt würden. Aber Anarchie wird meist auch abgelehnt. Stattdessen wird quasi gesagt, der Mensch könnte ohne den liberalen Staat nicht existieren.
SB: Wenn wir vom real existierenden Liberalismus ausgehen, ist sein Kern, dass der Mensch geradezu auf die Einzelexistenz reduziert wird. Martin Buber etwa nannte es die "Atomisierung": Der liberale Staat zerschlägt alle sozialen Beziehungen, die die Grundlage ist der gesellschaftlichen Selbstorganisation, also Anarchie, damit der atomisierte Einzelmensch auf den Staat angewiesen ist. Aber natürlich ist dieser real existierende Liberalismus nur eine Karikatur der liberalen Idee. Bei Wilhelm von Humboldt etwa geht es gerade um die Verbindung der Menschen jenseits der Staatsgewalt. Realisiert hat man nur seine staatliche Zwangsschule, weil er, wie später Lenin, dachte, man müsse den Staat erst stärken, um ihn dann überwinden zu können.
Du betonst sehr stark den jüdischen Existenzialismus um Leute wie Martin Buber. Was ist an dieser Richtung so besonders für dich?
SB: Mit Buber kann man sehr gut analysieren, wie der moderne Staat die Kraft der Menschen zur Selbstorganisation untergräbt. Der Staat vereinzelt, oder, wie gesagt, "atomisiert" sie, um dann zu sagen: Ihr könnt euch nicht selbst organisieren, ihr könnt euch nicht gegenseitig helfen, also braucht ihr staatliche Sozialsysteme, das Rechtssystem und so weiter und so fort, denn sonst steht ihr verlassen und allein da und verhungert und verkommt.
Ich habe mich auch genau mit Buber etc. beschäftigt. Mein Eindruck war, dass diese Philosophen die Notwendigkeit der Relation zum Mitmenschen deutlich stärker betonten als andere Existenzialisten wie z.B. Nietzsche oder Sartre. Siehe sein Zitat "Das Ich wird erst durch das Du zum Ich". Widerspricht das nicht etwas dem Ideal des möglichst "unabhängigen Individuum", was die Liberalen pflegen?
SB: Deshalb ist Buber so notwendig. Das "möglichst unabhängige Individuum" ist eine Chimäre, ein sinnloses Ideal bestenfalls, vermutlich gefährlich. Nur das Individuum ist stark, das um seine Wurzeln in der Gemeinschaft weiß. Zugleich wahrt Buber sich dagegen, aus der Verwurzelung des Individuums in der Gemeinschaft zu schließen, dass der Gemeinschaft das Recht eigne, das Individuum zu unterdrücken und zu bevormunden. Sobald sie dies tue, sagt Buber, hört sie auf, eine Gemeinschaft zu sein und wird stattdessen zum Staat.
Der Existenzialismus prägte auch die Idee des sogenannten Personalismus, welche insbesondere durch Christen unterstützt wird, und was einige als bessere Alternative zum Konzept des Individualismus betrachten. Einige Andere meinen, dass die Doktrin des Personalismus keinen Widerspruch zum Individualismus darstellt, sondern in Wahrheit eher eine Klarstellung des Individualismus sei und "asoziale" Elemente, die eigentlich nicht zum Individualismus gehören, entfernt. Dugin hat den Begriff des Personalismus in früheren Texten auch mal als Bezeichnung für Leute wie Max Stirner genutzt. Was denkst Du zu dem Thema?
SB: Begriffe sind ja von sich aus erst einmal relativ unschuldig. Wenn jemand den Individualismus kritisiert, schaue ich als erstes, was er damit sagen will. Oder wenn jemand einen neuen Begriff vorschlägt wie Personalismus, geht es primär darum, warum man von einem eingeführten Begriff abweichen will. Die Reduzierung der Debatte auf Schlagworte ist deren Verarmung.
Welche Existenzialisten würdest Du besonders empfehlen?
SB: Neben Buber den eben erwähnten Emmanuel Levinas. Es gibt ein wunderbares Buch über Levinas, der zu den am schwierigsten zu verstehenden Philosophen zählt, ausgerechnet von Judith Butler, die von Konservativen, Liberalen und Libertären wegen ihrer Gendertheorie so gehasst wird. Es hat im Deutschen den Titel, den ich für einen guten Slogan des Libertarismus halte: "Kritik der ethischen Gewalt".
Während einige Liberale erstaunlicherweise eine gewisse "Zuneigung" zu Leuten wie Max Stirner und Friedrich Nietzsche entwickeln und diese bei den Liberalen "eingemeinden" wollen, haben Liberale oft mit Heideggers Idee des "Gestells" extreme Probleme. (Grob gesagt die Idee, dass Technik nicht neutral ist, sondern unbemerkt den Menschen beeinflussen kann, dass am Ende der Mensch ein Sklave und Werkzeug der Maschinen wird, statt umgekehrt. Ernst Jünger meinte mit seinem "Arbeiter" sehr ähnliche Dinge. Große Teile des modernen Alltagsleben sind dieses Gestell. Beispielsweise dass man um dieselbe Uhrzeit aufstehen muss, zur selben Zeit Mittagspause, Feierabend etc. hat. Dieser "getaktete" Alltag ist ein subtiler Weg, wie eigentlich schon der Mensch durch die Maschine kontrolliert wird. Dinge wie Just in Time Production machen solche Dinge sogar noch extremer.) Liberale tun sich meistens richtig schwer, dieses Konzept zu sehen. Was denkst Du über das "Gestell" und wie gerade auch Liberale damit umgehen sollten?
SB: Obwohl ich an sich nicht viel mit Heidegger anfangen kann, halte ich die Aussage, Technik sei nicht neutral, für absolut gerechtfertigt. In sich selbst organisierenden kleinen Gemeinschaften wird sich eine Technik entwickeln, die völlig verschieden ist von der, die große zentral organisierte Staaten hervorbringen.
Du sprichst gerne über die Frankfurter Schule. Adorno und Horkheimer, sowie Marcuse hatten ebenfalls Kritiken am "Geist der Technik" und der "instrumentellen Vernunft", und der daraus resultierenden "eindimensionalen Gesellschaft". Was denkst du darüber und wie wichtig sind diese? Gerade auch aus liberaler Sicht?
SB: Die Liberalen (oder heute auch zum Teil Konservativen), die im Reflex auf die Angriffe der Grünen gegen die Technik nun meinen, diese auf Teufel heraus zu verteidigen, befinden sich auf dem berühmten Holzweg. Der Staat bringt die Technik hervor, die ihm nützt. Und wenn die Herrschenden sich dann umentscheiden und eine andere Technik favorisieren, heißt das nicht, dass die vorhergehende Technik das non plus ultra war. Siehe zum Beispiel Atomkraft. Atomkraft ist überall auf der Welt immer nur entweder direkt vom Staat implementiert worden oder bedurfte massiver staatlicher Protektion. Es war die Form der Stromerzeugung, die dem zentralistischen Staat seinerseits am angemessensten war. Nun gibt es eine neue Entscheidung, um die Gemeinden zu enteignen und abhängig von Großprojekten zu machen. Das war ursprünglich mal anders gedacht. Die Grünen hatten alternative Energiegewinnung als Alternativen vor Ort gedacht, als Möglichkeit der Gemeinden, sich selbst zu versorgen und selber zu entscheiden, was sie tun. Inzwischen ist das anders und die alternativen Energien sind zu einem Projekt der zentralstaatlichen Bevormundung geworden. Technik ist eben nicht neutral. Und das, was der Staat gestern gemacht hat, ist nicht besser oder organischer als das, was er heute tut.
Eine andere Quelle des "uneigentlichen Seins" ist das Phänomen, was Heidegger als "man" beschrieben hat. Dass man quasi die Eigenverantwortung gedanklich an die Masse abgebe. Nach dem Prinzip "Ich tu das, weil es alle machen", oder "Ich tu es, weil man es halt so tut", oder "Die Anderen machen es auch" und Ähnliches. Quasi man sagt nicht, "ich will es", sondern gibt den eigenen Willen an ein diffuses Konstrukt ab, was gleichzeitig jeder und gar keiner ist. Was denkst du darüber und wie sollte man mit so etwas umgehen?
SB: Und damit sind wir wieder bei einem sinnvollen Individualismus, nämlich dem Protest gegen das "man". In der Gestalttherapie gibt es ein Experiment, das der Therapeut dem Klienten gegebenenfalls vorschlägt: "Ersetze immer, wenn du 'man' oder 'es' sagst, mal 'ich', und schau, wie sich das anfühlt." Mit diesem Experiment wird der Klient darauf hingelenkt, überhaupt erst wahrzunehmen, dass er Entscheidungen trifft und nicht willenlos dem Meinen anderer ausgeliefert ist.
Dugin meinte, dass man gerade wegen dieses "man" nicht einfach platt die äußere Handlungsfreiheit erhöhen kann, da wegen diesem "Gruppendruck" und Herdentrieb dies eher nur mehr "gesichtslose Einheitsmenschen" erzeugen würde. Krassestes Beispiel wäre z.B. wenn Schönheits-OPs weit verbreitet und günstig zu haben wären, oder gar transhumanistische Hirnimplantate etc. Wie siehst du das?
SB: Da befinden wir uns auf dem schmalen Grad zwischen Kritik und Bevormundung. Sicherlich lassen sich manche gesellschaftlichen Trends kritisieren und dagegen ist nichts einzuwenden. Doch sowohl konservative als auch linke Kritik schlägt dann gern um in Bevormundung, das heißt, dass das Kritisierte verboten werden solle, wenn die Menschen nicht freiwillig auf das Kritisierte verzichten. Das ist genau das, vor dem Levinas gewarnt hat: Man will den Anderen sich gleich machen. Während der Gruppendruck dies indirekt macht und dir offen lässt, ob du mitmachst oder sich absonderst, übt die Bevormundung Zwang aus. Gruppendruck hat seinerseits einen Doppelcharakter. Der Gruppendruck etwa, gewisse moralische Standards einzuhalten und deren Einhaltung zu überwachen, ist für ein angenehmes Zusammenleben sicherlich unverzichtbar. Andererseits ist Gruppendruck, der soziale Konformität erzeugt, sicherlich hinderlich. Sowohl Gruppendruck als auch Kritik können in Herrschaft umschlagen, und das ist das Problem.
Heidegger und auch die Kyoto-Schule sahen die Auseinandersetzung mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit als besonders wichtig für die eigene geistige Freiheit an. Und tatsächlich fällt auf, dass die "besonderen Personen der Geschichte" meist ihr eigenes Ende in ihren Handlungen schon gesehen hatten (bestes Beispiel wohl Stauffenberg; dem wird klar gewesen sein, dass er leicht drauf gehen kann, bei so etwas), während die "normale schläfrige Masse" ihren eigenen Tod am liebsten verdrängt. Wie denkst Du darüber?
SB: Sigmund Freud meinte, zumindest ein Teil der Kulturentwicklung sei auf die Tendenz des Menschen zurückzuführen, den eigenen Tod zu leugnen. Da jede Vorstellung das Ich zumindest als passiven Beobachter impliziert, ist der eigene Tod nicht wirklich vorstellbar. Das gehört zur Konstitution des Menschseins. Das ist etwas anderes als sich ein "Risiko" vorzustellen und einzugehen. Indem ich mir aber vorstelle, bei einer riskanten Tätigkeit "drauf zu gehen", bleibe ich doch als Beobachter der Szene präsent. Insofern haben die Buddhisten einen wichtigen Punkt, nämlich dass die Beschäftigung mit dem eigenen Tod voraussetzt, sich völlig "leer" zu machen, "leer" sogar vom Ich. Doch alltagspraktisch ist das nicht.
Dir ist auch das Thema Schule und Schulkritik extrem wichtig. Dugins langjähriger Weggefährte schrieb über die Staatsschule: "'Schooling' in Englisch ist in der Übersetzung ins Russische 'shkolenie', in der russischen Sprache gibt es das Wort 'schooled'. Und all dieses sprachliche Nest bedeutet überhaupt nicht 'Lernen' und bedeutet sogar nicht einmal 'Bildung', sondern bedeutet 'Training'. 'Training' ist genau das, was es ist, und wenn in der russischen Version die ausländische 'Schule', die sich in 'shkola' verwandelt hat, nicht täglich an etwas erinnert, dann schreit sie im Englischen jedes Mal, wenn sie eingesetzt wird, eindeutig und unmissverständlich über 'Training'. Es ist erwähnenswert, dass die gleiche 'Schulbildung' auch in Bezug auf die Ausbildung von Pferden und Hunden erwähnt wird. Um auf die wahre Bedeutung des Wortes zurückzukommen, ist es einfacher, das Wesen der eigentlichen Institution zu verstehen. Bildung, Ausbildung in der Schule kommt vor dem Erwerb von Wissen. Das Ziel der Ausbildung ist es, die natürlichen Instinkte des Menschen zu brechen, seine natürliche Aggression zu brechen, sie völlig zu unterdrücken. Es ist nicht ohne Grund, dass Schulen in allen Ländern ohne Ausnahme immer Körperstrafen verwendeten, die noch vor etwa hundert Jahren stattfanden. Die Schule ist als repressive Institution gedacht. Es muss nach einem Koma, vor dem Gefängnis, in den gleichen Rang gestellt werden. Es ist ein Missverständnis, dass die Schule in den gleichen Rang wie Bibliotheken und Museen gestellt wird und Lehrer nach den Ärzten ein Koma geschrieben werden, sie sollten vor die Vorgesetzten und die Platzhirsche gestellt werden. Die Tatsache, dass die Schule wie viele staatliche Institutionen altersschwach geworden ist, sich verändert hat, mit langweiligem Staub bedeckt wurde, sollte ihren repressiven Charakter nicht verbergen. Auch die heutige bröckelnde Schule macht ihren Job." Was ist deine Meinung zum Thema Schulkritik und ist dieses Thema wichtig für das "eigentliche Dasein"?
SB: Die staatliche Zwangsschule ist die Urerfahrung des jungen, sich entwickelnden Menschen, den anonymen Entscheidungen der Maschinerie ausgeliefert zu sein; nicht nur der junge Mensch selber, sondern auch seine natürlichen Autoritäten, die Eltern, sind hilflos. Staatschule ist die Einübung in die Unterwerfung.
Zu dem gerade gebrachten Limonow-Zitat: Wir beiden waren/sind ja in Lichtschlags Umfeld tätig gewesen. So um 2014 rum gab es da ja 'ne riesen Aufregung, weil ein FDP-Politiker namens Hasso Mansfeld ein Loblied auf die Staatsschule aussprach und das als Grundlage für die Freiheit des Einzelnen beschrieb. Warum konnte nun der Nationalbolschewist Limonow die Staatsschule klarer als Bedrohung für die Freiheit erkennen, als ein liberaler Politiker aus der FDP? Wie kann es sein, dass in so einigen Fragen ein Nationalbolschewist, der mehrfach Hitler und Stalin lobte, mehr auf libertärer Seite ist, als die FDP?
SB: Die FDP ist keine liberale Partei. Und gerade der ganze Bereich Bildungspolitik ist in der FDP absolut staatsfixiert. Etwa bekämpft die FDP seit langem die Länderhoheit in der Bildungspolitik und will die Bildungspolitik noch mehr zentralisieren. Wie erwähnt, hatte bereits Humboldt eine zentralisierte Staatsschule geschaffen, die Grundschule, in der sogar nach einer einheitlichen Methode unterrichtet werden musste, und das Gymnasium, das für alle verbindlich sein sollte. Er hatte allerdings noch die Idee, irgendwann sollten die Leute ihre Bildung selber organisieren. Seine "liberalen" Nachfolger waren wie die Nachfolger Lenins dann nicht mehr der Meinung, die errungene Staatsmacht wieder abgeben zu wollen. Insofern ist es schon ein übler Witz der Geschichte, dass jemand, der Hitler und Stalin lobte, sich kritisch zur Staatsschule äußerte. Der nationalsozialistische Staat hat die Schulpflicht noch einmal schärfer gefasst als die Weimarer Republik, und auch Stalin ist nicht dadurch aufgefallen, dass er seinen Untertanen gestattete, ihre Schulen selber zu organisieren und die Inhalte zu bestimmen. Zugegebenermaßen gab es unter den Nationalsozialisten auch Gegner des damals üblichen Schulunterrichts, den Pädagogen Ernst Krieck etwa. Er wollte sie durch autoritäre Massenorganisationen wie die Hitlerjugend ganz ersetzt wissen. Aber er hat sich gegen Alfred Bäumler, der an der traditionellen Schule als zentrale Säule der Erziehung festhalten wollte, nicht durchgesetzt. Dazu muss man aber sagen, dass die libertäre Schulkritik sich nur gegen den Zwangscharakter richtet. Die Aussage ist, alle Eltern bzw. die Kinder und Jugendlichen selber sollten entscheiden, welche Art der Bildung oder Ausbildung sie bevorzugen. Die Schule zwangsweise für alle abzuschaffen wäre genauso falsch wie sie für alle verbindlich zu machen.