Henry Kissinger und das globale Führungsdefizit
Die Qualität der weltweiten Führung verschlechtert sich zu einer Zeit, in der sie dringend benötigt wird, meint Henry Kissinger, ein Veteran der amerikanischen Außenpolitik. Er befürchtet, dass die Zivilisation dadurch gefährdet werden könnte. Zumindest die westliche Kultur befindet sich bereits in einem Zustand des Niedergangs.
Kissinger ist ein Realist, aber auch ein Elitist, der glaubt, dass nur eine Handvoll Menschen die komplexe Struktur einer lebensfähigen Weltordnung versteht. Ebenso glaubt er, dass nur sehr wenige Menschen das Führungstalent besitzen, das nötig ist, um einen fragilen internationalen Rahmen zu schaffen, zu verteidigen oder zu reformieren.
Für eine effektive Führungspersönlichkeit reicht es nicht aus, das internationale System zu verstehen. Kissinger glaubt, dass zwischen der Welt, die die Bürger eines Landes sehen wollen, und der Welt, die tatsächlich möglich ist, eine große Kluft besteht. Es kann weder die Welt sein, die beispielsweise die chinesische Öffentlichkeit möchte, noch die Welt, die viele Amerikaner möchten. Sie kann auch nicht so islamisch sein, wie einige Muslime es gerne hätten.
Große Führer, so Kissinger, sollten die Kluft zwischen der öffentlichen Meinung in ihren eigenen Ländern und den Kompromissen, die untrennbar mit der internationalen Diplomatie verbunden sind, überbrücken. Sie sollten den aktuellen Zustand der Welt klar genug sehen, um zu verstehen, was möglich und nachhaltig ist. Sie sollten auch in der Lage sein, ihre Landsleute davon zu überzeugen, Lösungen zu akzeptieren, die zwangsläufig oft enttäuschende Kompromisse sind.
Eine solche Führungsrolle erfordert eine seltene Kombination aus intellektuellen Fähigkeiten, Bildung und einem intuitiven Verständnis von Politik, über das nur wenige verfügen. Kissingers neuestes Buch, Leadership: Six Studies in World Strategy, hebt sechs Fallstudien hervor, die ihm gefallen: Konrad Adenauer aus Deutschland, Charles de Gaulle aus Frankreich, Richard Nixon aus den Vereinigten Staaten, Anwar Sadat aus Ägypten, Margaret Thatcher aus Großbritannien und Lee Kuan Yew aus Singapur.
Wie der Untertitel des Buches, Six Studies in World Strategy, vermuten lässt, interessiert sich der Geopolitiker Kissinger vor allem dafür, wie sich diese Führer auf der Weltbühne verhalten haben. Für Kissinger selbst waren strategische Manöver oft wichtiger als moralische oder rechtliche Erwägungen. Daher interessiert es ihn nicht, wie die untersuchten Politiker in ihren Heimatparlamenten abgeschnitten haben.
Interessanterweise scheint Kissinger sogar Charles de Gaulle zu respektieren, einen französischen Kritiker der NATO und Gegner der anglo-amerikanischen Hegemonie, der die politische Realität "durch schiere Willenskraft" geschaffen hat. Kissinger bewundert De Gaulles staatsmännische Fähigkeiten und meint, dass "De Gaulle in allen wichtigen strategischen Fragen, mit denen Frankreich und Europa drei Jahrzehnte lang konfrontiert waren, gegen einen überwältigenden Konsens richtig geurteilt hat".
Früher brachten außergewöhnliche Umstände die notwendigen Führungspersönlichkeiten hervor, aber heute befürchtet Kissinger, dass dies in der heutigen Welt nicht mehr der Fall ist. Er fragt sich, ob die heutige Kultur so weit erodiert ist, dass die Gesellschaften nicht mehr über die nötige Weisheit verfügen, um neue Generationen auf Führungsaufgaben vorzubereiten. Viele andere haben sich auch gefragt, ob die Welt der nahen Zukunft von der Idiokratie der amerikanischen Science-Fiction-Komödie geprägt sein wird.
Es ist nicht nur eine Frage der liberalen Identitätspolitik, die die Bildung verdummt, sondern auch eine Frage, wie eine stärker visuell geprägte Medienkultur und das Internet das kollektive Bewusstsein beeinflussen und die Konzentration sowie eine tiefgreifende und ganzheitliche Prüfung der Fakten untergraben. Auch die Medien erzeugen einen großen Konformitätsdruck, dem sich die Politiker nur schwer entziehen können.
Mit seinen fast 100 Jahren hat Kissinger länger über die Probleme der Führung nachgedacht, als die meisten Amerikaner gelebt haben. Als er in den 1960er Jahren bekannt wurde, dominierte die alte Elite noch die US-Außenpolitik. Aber die alte Garde ist inzwischen durch eine neue ersetzt worden. Insbesondere die Errungenschaften der amerikanischen Staatskunst im 21. Jahrhundert inspirieren Kissinger nicht mehr.
Ein westlicher Globalisten-Insider meint, dass das Problem der Weltordnung jetzt immer schwieriger wird. Der Kampf der Großmächte verschärft sich, China stellt eine komplexere Herausforderung für den Westen dar als die Sowjetunion, und das internationale Vertrauen in die amerikanische Hegemonie ist gesunken.
Die geopolitischen Spannungen nehmen zu und Cyber-Kriegsführung und Technologien der künstlichen Intelligenz sind ins Spiel gekommen. Kissinger ist der Ansicht, dass die heutigen Herausforderungen staatsmännisches Geschick und klassische Weisheit erfordern, deren Fehlen dazu geführt hat, dass Populisten und Technokraten die Welt falsch regiert haben.
Quelle: https://markkusiira.com/2022/12/27/henry-kissinger-ja-globaali-johtajuusvaje/
Übersetzung von Robert Steuckers