Franco Cardini und die Implosion des Westens

13.02.2024

Ende letzten Jahres habe ich zufällig ein prätentiöses und pedantisches kleines Buch geschrieben, eine Art Antwort auf jenen großartigen Essay, der seinerzeit (und bis heute) L'occidentalisation du monde von Serge Latouche (La Découverte, 1989) war. Mein kurzer Essay, vielleicht so etwas wie ein Pamphlet, trägt den Titel La deriva dell'Occidente (Laterza, 2023) und untersucht die fiebrige, beleidigende Rückkehr des kollektiven Stolzes eines 'Westens', der sich nicht einmal klar definieren kann, der eine nach der anderen seine historischen, kulturellen, intellektuellen, religiösen, spirituellen Konnotationen verliert, und dem es nur gelingt, sich vorzumachen, dass er seiner unmöglichen Wiedergewinnung der Identität durch die Konsumorgie (die im Übrigen durch die beginnende Krise frustriert wird) und die Wüste eines 'Willens zur Macht' Substanz verleihen kann, der nach dem Scheitern eines verrückten Entwurfs rassistischer Vorherrschaft nicht in der Lage ist, seiner Illusion von Überlegenheit einen anderen Namen als den plumpesten von allen zu geben: 'Demokratie'.

Ich hatte erwartet, dass ich auf diese nichtssagende Übung in frustrierter Prosa mit nonchalantem Desinteresse reagieren würde. Schließlich war es das, was ich verdiente und erwartete. Stattdessen verkaufte der Verlag mehrere Tausend Exemplare, und es gab sogar einige großzügige Rezensionen. Aber vor allem, und das ist ein paradoxer Glücksfall, erschien mein Büchlein nur wenige Wochen vor einem wirklich großen Essay, der viel wichtiger und bedeutender ist als meiner: und dessen Titel, La défaite de l'Occident (Gallimard, 2024), meinen Diskurs aufzugreifen scheint, ihn überhöht und zu seinen extremen Konsequenzen führt, die ich nicht einmal zu sehen gewagt hatte.

Außerdem hatten Emmanuel Todd und ich vor einigen Monaten in einer luziden Studie von Didier Billon und Christophe Ventura mit dem schonungslos entzaubernden Titel Désoccidentalisation. Repenser l'ordre du monde (Agon, 2023) einen gültigen Vorreiter.

Man muss sagen, dass wir anderen Historiker, Philologen, Philosophen, Anthropologen, Spezialisten für alle Arten von 'Humanwissenschaften', niemals den Mut gehabt hätten, eine Analyse so konkret, fast 'materialistisch' realistisch zu formulieren, wie dieser raue und manchmal 'minimalistische' Schüler von Emmanuel Leroy Ladurie sie formuliert hat. Wer hat schon den Mut, die Realität in ihren skelettartigen Zusammenhängen zu betrachten und sie in einer nüchternen, realistischen Sprache zu beschreiben. Weg mit dem überstrukturellen Drumherum, sagt uns Todd, schauen wir uns die nackte Struktur an.
Aber, Überraschung, die Struktur des europäischen Scheiterns und seines Verderbens ist keineswegs sozioökonomisch. Ganz im Gegenteil. Seit den 1980er Jahren, als sich der 'Sieg' des Westens so deutlich abzuzeichnen schien, dass er den triumphalen Ausruf des Fin de l'histoire von Francis Fukuyama auslöste, brachte die Implosion der Sowjetunion alles wieder ins Rollen: Als ob das Ende der Großen Union der bekennenden und militanten Atheisten zum Platzen einer Blase geführt hätte, die ein Dreivierteljahrhundert lang angeschwollen war und alle Sporen einer unterdrückten und unbesiegbaren Religiosität enthielt, komprimiert und bereit zu explodieren.

Eine Religiosität, die anderswo den Sieg des Geldes und des Marktes (Der 'König Midas', den Paolo Cacciari in seinem Essay Re Mida. La mercificazione del pianeta, La Vela, 2022) langsam und unerbittlich in einer Art langsamer Euthanasie getötet hatte. Siebzig Jahre sowjetische Diktatur haben die tiefen Wurzeln des russisch-orthodoxen Christentums nicht erstarren lassen; in ähnlicher Weise genügten im sehr katholischen Polen ein paar Jahre Demokratie, um die große polnische Kirche, die jahrzehntelang der einheimischen Diktatur und der sowjetischen Hegemonialherrschaft widerstanden hatte, in eine Krise zu stürzen.

Doch was geschah in der Zwischenzeit im opulenten und konsumorientierten Westen, im Universum des Dollars und des Marktes, der Profite und des Konsums? Dort entdeckte die Krise des internationalen sozioökonomisch-politischen Systems, das von den Vereinigten Staaten hegemonisiert wurde, ihren wahren Schwachpunkt gerade und vor allem im religiösen und spirituellen Bereich. In den Vereinigten Staaten hat die Auflösung der großen protestantischen Tradition zu Neoliberalismus und Nihilismus geführt; in Großbritannien zum Strudel der Vorherrschaft der Großfinanz; in Europa zu einem im Konsumschlaf versunkenen Atheismus, in dessen Licht sonntags die Einkaufszentren an die Stelle der Messen und Kirchengemeinden getreten sind.
Und hier bringt der Soziologe und Demograf Todd die Ressourcen der Wirtschaftskritik, der Religionssoziologie und der Anthropologie des Profondeurs zum Tragen, indem er mit einer Fülle von quantitativen Daten die Niederlage des Westens beschreibt, der unfähig ist, Werte zu konstruieren, die nicht ausschließlich oder überwiegend materialistisch sind. Der Westen ist nicht explodiert und wurde nicht besiegt; er implodiert, weil er nicht in der Lage ist, Werte zu formulieren, die nicht mit Monetarisierung, Profit und Konsum verbunden sind. Unfähig, dem Nichts zu widerstehen, das voranschreitet.

Franco Cardini, Minima Cardiniana, 15. Januar 2024

Quelle

Übersetzung von Robert Steuckers