In Eurasien ist der Krieg der Wirtschaftskorridore in vollem Gange
Der Krieg der Wirtschaftskorridore ist in vollem Gange. Der erste Warenstrom von Russland nach Indien über den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) ist in Kraft getreten
Nur wenige in Ost und West sind sich bewusst, dass es sich hierbei um eine seit langem bestehende Initiative handelt: Das russisch-iranisch-indische Abkommen über eine kürzere und billigere eurasische Handelsroute durch das Kaspische Meer (im Gegensatz zum Suezkanal) wurde erstmals im Jahr 2000 unterzeichnet, also in der Zeit vor dem 11. September.
Der voll funktionsfähige INSTC ist ein starkes Markenzeichen der eurasischen Integration, zusammen mit der Gürtel- und Straßeninitiative (BRI), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) und nicht zuletzt dem, was ich vor zwei Jahrzehnten als "Pipelineistan" bezeichnet habe.
Das Kaspische Meer ist der Schlüssel
Werfen wir zunächst einen Blick darauf, wie diese Vektoren interagieren.
Der Grund für die aktuelle Beschleunigung liegt im jüngsten Besuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Aschgabat, der Hauptstadt Turkmenistans, anlässlich des 6. Dieses Ereignis hat nicht nur die Entwicklung der strategischen Partnerschaft zwischen Russland und dem Iran vertieft, sondern - und das ist entscheidend - alle fünf Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres haben sich darauf geeinigt, dass dort keine Kriegsschiffe oder NATO-Stützpunkte zugelassen werden.
Dadurch wird das Kaspische Meer zu einem virtuellen russischen und in geringerem Maße auch iranischen See, ohne die Interessen der drei 'Stans' Aserbaidschan, Kasachstan und Turkmenistan zu beeinträchtigen. In jeder Hinsicht hat Moskau seinen Griff auf Zentralasien verschärft.
Da das Kaspische Meer durch die von der ehemaligen UdSSR gebauten Kanäle an der Wolga mit dem Schwarzen Meer verbunden ist, kann Moskau immer auf eine Reserveflotte von kleinen Schiffen - ausnahmslos mit leistungsstarken Raketen ausgestattet - zählen, die bei Bedarf in kürzester Zeit ins Schwarze Meer verlegt werden können.
Die Stärkung der Handels- und Finanzbeziehungen mit dem Iran geht nun Hand in Hand mit der Anbindung der drei 'Stans' an die russische Matrix. Die gasreiche Republik Turkmenistan ihrerseits ist historisch gesehen eigenwillig - abgesehen davon, dass sie den Großteil ihrer Exporte an China bindet.
Unter einer neuen Führung, dem wohl pragmatischeren Präsidenten Serdar Berdimuhamedow, könnte sich Aschgabat für eine Mitgliedschaft in der SCO und/oder der EAEU entscheiden.
Aserbaidschan, ein Anrainerstaat des Kaspischen Meeres, stellt hingegen einen komplexen Fall dar: ein Öl- und Gasproduzent, den die Europäische Union (EU) als alternativen Energielieferanten zu Russland ins Auge fasst, auch wenn dies nicht in absehbarer Zeit geschehen wird.
Die Verbindung zu Westasien
Die iranische Außenpolitik von Präsident Ebrahim Raisi ist eindeutig auf eine eurasische Ausrichtung und den globalen Süden ausgerichtet. Teheran wird auf dem bevorstehenden Gipfeltreffen in Samarkand im September formell als Vollmitglied in die SOZ aufgenommen, während der formelle Antrag auf Mitgliedschaft in den BRICS bereits eingereicht wurde.
Purnima Anand, Leiterin des BRICS International Forum, sagte, dass auch die Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten sehr an einem Beitritt zu den BRICS interessiert seien. Wenn dies geschieht, könnten wir bis 2024 einen mächtigen westasiatischen und nordafrikanischen Pol sehen, der fest in einer der Schlüsselinstitutionen der multipolaren Welt installiert ist.
Während Putin nächste Woche zu trilateralen Gesprächen zwischen Russland, Iran und der Türkei nach Teheran reist, bei denen es angeblich um Syrien geht, wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Thema BRICS ansprechen.
Teheran operiert auf zwei parallelen Vektoren. Sollte der Gemeinsame Umfassende Aktionsplan (Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA) reaktiviert werden - was angesichts der jüngsten Turbulenzen in Wien und Doha eher unwahrscheinlich ist - wäre dies ein taktischer Sieg. Die Annäherung an Eurasien findet jedoch auf einer völlig neuen strategischen Ebene statt.
Im Rahmen des INSTC wird der Iran den geostrategisch wichtigen Hafen von Bandar Abbas, der sich über den Persischen Golf und den Golf von Oman erstreckt und an der Schnittstelle zwischen Asien, Afrika und dem indischen Subkontinent liegt, optimal nutzen.
So sehr dies auch als großer diplomatischer Sieg dargestellt werden mag, ist doch klar, dass Teheran nicht in der Lage sein wird, die Vorteile seiner BRICS-Mitgliedschaft voll auszuschöpfen, solange die Sanktionen des Westens - und insbesondere der USA - nicht vollständig aufgehoben werden.
Gaspipelines und "Stans"
Man kann argumentieren, dass Russland und China die westliche Technologielücke im iranischen Entwicklungsprozess schließen könnten. Aber es gibt noch viel mehr, was Plattformen wie der INSTC, die EAEU und sogar die BRICS erreichen können.
Durch 'Pipelineistan' wird der wirtschaftliche Korridorkrieg noch komplexer. Die westliche Propaganda kann nicht zugeben, dass Aserbaidschan, Algerien, Libyen, Russlands OPEC-Verbündete und sogar Kasachstan nicht gerade bereit sind, ihre Ölproduktion zu erhöhen, um Europa zu helfen.
Kasachstan ist ein kniffliger Fall: Es ist der größte Ölproduzent in Zentralasien und wird nach Russland und Turkmenistan ein wichtiger Erdgaslieferant werden. Mehr als 250 Öl- und Gasfelder werden in Kasachstan von 104 Unternehmen betrieben, darunter westliche Energieriesen wie Chevron, Total, ExxonMobil und Royal Dutch Shell.
Während die Exporte von Erdöl, Erdgas und Erdölprodukten 57% der kasachischen Exporte ausmachen, macht Erdgas 85% der turkmenischen Bilanz aus (wobei 80% der Exporte nach China gehen). Interessanterweise ist Galkynysh das zweitgrößte Gasfeld der Erde.
Im Vergleich zu den anderen 'stans' ist Aserbaidschan ein relativ unbedeutender Produzent (obwohl Öl 86% seiner Gesamtexporte ausmacht) und im Grunde ein Transitland. Bakus Streben nach Superreichtum konzentriert sich auf den Südlichen Gaskorridor, der nicht weniger als drei Pipelines umfasst: Baku-Tblisi-Erzurum (BTE), die Trans-Anatolische Pipeline (TANAP) unter türkischer Führung und die Trans-Adria-Pipeline (TAP).
Das Problem bei diesem Festival der Akronyme - BTE, TANAP, TAP - ist, dass sie alle massive Auslandsinvestitionen benötigen, um die Kapazitäten zu erhöhen. Und daran mangelt es der EU, denn jeder einzelne Euro wird von den nicht gewählten Eurokraten in Brüssel eingesetzt, um das schwarze Loch Ukraine zu 'stützen'. Die gleichen finanziellen Probleme gelten für eine mögliche transkaspische Pipeline, die eine weitere Verbindung zu TANAP und TAP herstellen würde.
Im Krieg der Wirtschaftskorridore - dem Kapitel 'Pipelineistan' - ist ein entscheidender Aspekt, dass der größte Teil der kasachischen Ölexporte in die EU über Russland läuft, und zwar über das Kaspische Pipeline-Konsortium (CPC). Alternativ denken die Europäer über eine immer noch verwirrende transkaspische internationale Transportroute nach, die auch als Mittlerer Korridor (Kasachstan-Turkmenistan-Aserbaidschan-Georgien-Türkei) bekannt ist. Sie haben dies letzten Monat in Brüssel aktiv diskutiert.
Die Schlussfolgerung ist, dass Russland die volle Kontrolle über das Schachbrett der eurasischen Gaspipelines behält (und wir sprechen hier nicht von den von Gazprom betriebenen Pipelines Power of Siberia 1 und 2 nach China).
Die Führungskräfte von Gazprom wissen nur zu gut, dass eine schnelle Steigerung der Energieexporte in die EU nicht in Frage kommt. Außerdem sind sie der Meinung, dass die Teheraner Konvention - die dazu beiträgt, die Verschmutzung zu verhindern und zu kontrollieren und die ökologische Integrität des Kaspischen Meeres zu erhalten - von allen fünf Anrainerstaaten unterzeichnet wurde.
Russlands Ausstieg aus der BRI
China seinerseits ist zuversichtlich, dass einer seiner größten strategischen Alpträume irgendwann verschwinden wird. Die berüchtigte 'Flucht aus Malakka' soll in Zusammenarbeit mit Russland durch die Nördliche Seeroute verwirklicht werden, die den Handels- und Verbindungskorridor von Ostasien nach Nordeuropa von 11.200 Seemeilen auf nur 6.500 Seemeilen verkürzen wird. Er ist der polare Zwilling des INSTC.
Dies erklärt auch, warum Russland eine breite Palette von hochmodernen Eisbrechern baut.
Es handelt sich also um eine Verbindung zwischen den Neuen Seidenstraßen (die INSTC verläuft parallel zur BRI und EAEU), der Pipelineistan und der Nördlichen Seeroute, die im Begriff ist, die westliche Handelsdominanz vollständig zu stürzen.
Natürlich haben die Chinesen dies schon seit einiger Zeit geplant. Das erste Weißbuch über Chinas Arktis-Politik vom Januar 2018 hat bereits gezeigt, wie Peking "gemeinsam mit anderen Staaten" (d.h. Russland) maritime Handelsrouten in der Arktis als Teil der Polaren Seidenstraße einrichten will.
Und wie ein Uhrwerk bestätigte Putin später, dass der Nördliche Seeweg mit Chinas maritimer Seidenstraße interagieren und diese ergänzen sollte.
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und China entwickelt sich auf so vielen komplexen und konvergierenden Ebenen, dass es schon schwindelerregend ist, den Überblick zu behalten.
Eine detailliertere Analyse wird einige der Feinheiten aufzeigen, z.B. wie die BRI und die SOZ zusammenwirken und wie sich die BRI-Projekte an die berauschenden Folgen von Moskaus Operation Z in der Ukraine anpassen müssen, indem sie mehr Gewicht auf die Entwicklung der zentral- und westasiatischen Korridore legen.
Es ist immer wichtig zu bedenken, dass eines der wichtigsten strategischen Ziele Washingtons in seinem unerbittlichen hybriden Krieg gegen Russland immer darin bestand, die BRI-Korridore, die russisches Territorium durchqueren, zu unterbrechen.
Gegenwärtig ist es wichtig zu erkennen, dass Dutzende von BRI-Projekten im Bereich der Industrie, der Investitionen und der grenzüberschreitenden interregionalen Zusammenarbeit schließlich das russische Konzept der Greater Eurasia Partnership konsolidieren werden, das sich im Wesentlichen um den Aufbau einer multilateralen Zusammenarbeit mit einer Vielzahl von Nationen dreht, die Organisationen wie der EAEU, SCO, BRICS und ASEAN angehören.
Willkommen beim neuen eurasischen Mantra: Wirtschaftskorridore schaffen, nicht Kriege.
Übersetzung von Robert Steuckers