Eschatologischer Optimismus, oder: Ein Aufruf an die Hinterbliebenen

31.08.2023
Reden auf der Konferenz Im Gedenken an Darja Dugina

Gibt es wirklich die Zeit, die zerstörende?
Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg?
Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehörende,
wann vergewaltigt's der Demiurg?
Sind wir wirklich so ängstlich Zerbrechliche,
wie das Schicksal uns wahr machen will?
Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche,
in den Wurzeln - später - still?

Ach, das Gespenst des Vergänglichen,
durch den arglos Empfänglichen
geht es, als wär es ein Rauch.

Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden
Kräften als göttlicher Brauch.

Nummer 27 aus Rainer Maria Rilkes „Sonetten an Orpheus“

Darja Alexandrovna Dugina ist verstorben. Dieser Satz und das mit ihm einhergehende Ereignis sind der Anlass für unser heutiges Beisammensein. Was für eine nichtswürdige Idee, dass nur durch unsere Worte irgendetwas von der Tragik dieses Ereignisses hinweg zu nehmen wäre. Was soll Sprechen, was soll Denken, im Angesicht dieser Tatsache? Was ausrichten oder wiedergutmachen? Was für eine nichtswürdige Idee.

Und doch: Es würde uns vielleicht gerade heute, ein ganzes Jahr nach dem Tod Darjas, allzu leichtfallen, dieses Ereignis schlichtweg zu vergessen und in dem Mahlstrom der Geschichte untergehen zu lassen. Es würde uns vielleicht in der Seele „wohltun“, nicht der grausamen Realität des Todes von Darja Dugina ins Gesicht schauen zu müssen, und gerade darin die Realität als gegeben und unabänderbar hinzunehmen. Also gerade deshalb! – Gerade deshalb, um diesem angstvollen, schwächlichen und unehrlichen „Wohltun“, welches selbst der eigentliche Tod ist, keinen Millimeter von unserer Seele zu überlassen, gerade deshalb müssen wir Worte finden. Und Darja Dugina war gerade eine Denkerin für unsere Zeit, die solche Worte gefunden hätte und hat; Die entgegen der „Dürftigkeit“ des Alltäglichen, des Albtraums der Realität, nach oben hin, gerade und ganz vertikal gedacht hat – Dem schlechten Omen, welches die heutige Welt darstellt, zum Trotz.

In Anbetracht all dessen, der beschämenden Tatsache ihres verfrühten Ablebens und der Trauer darüber, kann, soll und muss es also ihr Denken und Schreiben selbst sein, das uns aus der Beschämung wieder herauszureißen vermag. Darjas Konzeption eines „eschatologischen Optimismus“, welcher ihrem uns vorliegenden Nachlass den Namen gegeben hat, stellt die Beschreibung eines philosophiehistorischen Moments dar, der in erster Linie hin zum Unendlichen strebt. Dieses Unendliche trägt in der Geschichte alles Menschlichen bekanntlich viele Namen, und hat doch immer das selbe Gesicht. Und ich möchte auch geradeheraus, mit einer kurzen „Formel“, erläutern was es also mit diesem Streben auf sich hat: Eschatologischer Optimismus bedeutet zu erkennen, dass hinter dem falschen Endlichen das Wahre und Unendliche steht.

Es soll also, im Angesicht der letzten Dinge, die ja enthüllen, dass alles irdisch-immanente nichtig und nur Teil einer für unsere „niedere Realität“ konstitutiven Lüge ist, dennoch die flammende Liebe zur Möglichkeit bestehen bleiben – Ein Optimismus, der zwar aus Schmerz geboren wird, dabei aber nicht stehen bleibt, sondern immer weiter und weiter fort strebt, in gleichem Maße aus schrecklicher Kraft und dauerndem Bewusstsein bestehend, sich selbst zusammensetzend, seiner selbst Herr werdend. Wie Darja selbst schreibt: „Wir sind in die Welt geworfen, nehmen diese Geworfenheit aber auch als Chance an.“

Wenn hier vom „Herr werden“ die Rede ist, dann ist das sowohl im Sinne Hegels als auch Nietzsches zu verstehen. Tatsächlich ist der bereits erwähnte philosophiehistorische Aspekt für Duginas Entwurf ihres Konzeptes überaus zentral: Der eschatologische Optimismus ist in einer weit zurückreichenden und teilweise Gegensätzlichkeiten vereinenden Tradition eingebettet; Beginnend freilich mit Platons Höhlengleichnis, wie auch seiner Idee vom „Einen“, dann weiter über den Neuplatonismus vor allem Plotins, zu der aus ihm geborenen apophatischen Theologie. Die Liste von für den eschatologischen Optimismus sinngebenden und interessanten Philosophen enthält schließlich auch solche Denker wie den bereits genannten Hegel, aber eben auch Nietzsche und sogar Cioran, wobei Dugina besonders bei letzterem einige Vorbehalte zu bemerken hat. Dann weiter zu Guénon und Berdjajew, wie auch zu Jüngers „Waldgang“ und zu Evolas „Reiten des Tigers“. Ich selbst sehe mich an dieser Stelle verleitet, noch einige Namen hinzuzufügen: Gogol, besonders in den „Toten Seelen“, Tolstoij in seiner „Beichte“ und Dostojewskij mit seiner Verweigerung gegen das 2+2=4; So wie auch weiters Lev Shestov mit dem Kampf gegen die Notwendigkeit und schließlich Pavel Florenskij, in seinen letzten Briefen aus dem Arbeitslager.

Von einer reinen Aufzählung an Vordenkern, die hier ohnehin nicht erschöpfend behandelt werden können, aber nun abgesehen: Der Optimismus Duginas ist gerade deshalb eschatologisch, weil er, konfrontiert mit der Einsicht in die letzten Dinge, die illusorische Natur der Welt zur Kenntnis nimmt. Ein eschatologisches Denken ist also gewissermaßen seine Vorbedingung; Ein „Abstieg“ in die Untiefen des Denkens und Fühlens, der vor nichts zurückschreckt, um die schwindelerregenden Ausmaße der Falschheit unserer irdischen Existenz wahrhaftig ermessen zu können. Allerdings: Wer nur Kraft, Mut und Willen zeigt, der bleibt in diesem Abgrund der Falschheit nicht verfangen – Und das ist gerade der Sinn des Optimismus. Ich gehe sogar so weit zu sagen: Vielleicht trägt ein jeder Optimismus seine eschatologische Dimension in sich.

Darja Duginas Denken war Aufruf und Kampfansage zugleich. Sie hat gerade jenen Kampf kämpfen wollen, der uns allen vielleicht manches Mal aussichtslos erscheint – und gerade deshalb des Kämpfens wert ist – der also jeder noch so großen Hoffnungslosigkeit einen entschiedenen, stur vorwärts preschenden Willensakt entgegenhält. Und ich möchte in Anbetracht dessen ganz frei heraus und in einfachen, klaren Worten sprechen: Dass wir uns jetzt, und soll auch ein ganzes Jahr vergangen sein, mit der Tatsache ihres Todes, mit ihrer Ermordung konfrontiert sehen müssen, darf uns nicht etwa weiteren Anlass zum Denken, sondern zum Handeln geben. Es ist genug gedacht worden.

Und ich möchte, da mir selbst die Möglichkeit fehlt, es noch besser zu sagen, mit den Worten von Darja Duginas Vater schließen: „Dasha ist nicht mehr. Das ist aber unmöglich. Es kann einfach nicht sein. Ich glaube, dass es kein Ich und kein Wir ohne sie gibt. Niemand kann mich von ihrer Abwesenheit überzeugen. Kein Argument könnte das jemals bewirken. Ganz im Gegenteil, dieses Buch, der Eschatologische Optimismus, überzeugt uns davon, dass sie noch hier ist. Denn es sind nicht nur ihre Notizen, sondern die Impulse ihres Verstandes, ihres Geistes, ihrer Seele. Es ist das Konzept ihres philosophischen Lebens. Dieses Leben hatte zwar einen Anfang, aber es hat kein Ende.