Der kollektive Westen und andere Bagatellen
Die Geopolitik - so lehrt Ernesto Massi - ist eine grausame Wissenschaft. Denn sie zeigt Ihnen die Realität der Dinge, wie sie sind. Ohne Vorspiegelung.
Als Massi - der letzte große italienische Geopolitiker - lehrte und schrieb, war die grausame Wissenschaft, die Geopolitik, noch gar nicht in Mode. Im Gegenteil, bis vor ein paar Jahrzehnten wurde sie als Pseudowissenschaft gebrandmarkt, als obskur, die zudem einen schwefligen Geruch von... Nazismus verströmte.
Heute hingegen ist die Geopolitik in Mode gekommen. Und viele Menschen nehmen sie in den Mund, mehr oder weniger unangemessen. Improvisierte und selbsternannte Geopolitiker mit akademischen Titeln von wer weiß welchem Wert... Journalisten, die im Allgemeinen mehr über die Outfits von Sanremo-Sängern wissen als über Konzepte wie World Island oder Heartland. Zügellose Jugendliche, die vielleicht von McKinder und sogar Hausofer gehört haben, aber wahrscheinlich glauben, dass Kjellen der finnische Mittelstürmer und Ratzel ein australischer Golfer ist...
Vor allem aber beginnt die mehr oder weniger entstellte Sprache der geopolitischen Wissenschaft die Rhetorik der Politiker zu durchdringen.
Und so kommt es, dass ein neu gewählter argentinischer Präsident - bis gestern bekannt für seine Theatralik mit der Kettensäge in der Hand und ein Vokabular, das unseren alten Bossi wie einen guten Rhetoriker aussehen lässt (ganz zu schweigen von der politischen Intelligenz) - Jerusalem besucht.
Und dort, nachdem er dabei fotografiert wurde, wie er an der Klagemauer reichlich Tränen vergoss (was angesichts der Tatsache, dass unsere Mauer italienischen Ursprungs und nicht einmal ein Jota jüdischen Blutes ist, für einen gläubigen Juden wie eine Beleidigung oder Verhöhnung wirken sollte), beginnt er mit geflügelten Reden.
Unterstützung für Israel im Gaza-Krieg. Offensichtlich und offensichtlich. Aber dann wird Milei ganz theoretisch und verwendet Kategorien (von denen er glaubt), die der Geopolitik eigen sind.
Und er spricht von einem kollektiven Westen. Von dem Israel natürlich ein integraler Bestandteil wäre... aber das ist es nicht, was uns interessiert. Vielmehr geht es um die Bestätigung dieser Kategorie, die wir schon seit einiger Zeit von verschiedenen Kanzeln hören.
Der kollektive Westen. Was ist damit gemeint? Aus rein geografischer Sicht bedeutet es nichts. Ein absolutes Nichts.
Denn schon der Begriff des Westens, rein und einfach, ist an sich fragwürdig.
Wenn Spengler von der Dämmerung des Westens spricht, meint er damit Europa. Der dimensionale, ja spirituelle Kontinent, der von den triumphierenden 'Barbaren' belagert wird. Im Osten die Russen. Im Westen die Amerikaner. Beide gehören nicht zu seiner Vorstellung vom Westen. In der Tat sind sie genau diejenigen, die dabei sind, ihn zu zerstören.
Viele Jahre später nannte Geminello Alvi, ein brillanter und anomaler Wirtschaftswissenschaftler, Amerika Deep West (Estremo Occidente). Oder besser gesagt, die Vereinigten Staaten. In Abgrenzung zu unserem alten Westeuropa... ein Konzept, das ebenfalls in erster Linie kulturell geprägt ist und auf Rudolf Steiners Denken zurückgeht.
Zwei kurze Andeutungen, um etwas sehr Einfaches zu sagen. Das Konzept des 'kollektiven Westens' ist eine völlig neue Erfindung. Es will alles, was bestimmten sozialen und politischen Modellen entspricht, zu einer Art Einheit zusammenfassen. Denen der Anglosphäre. Vereinfacht gesagt, denen, die auf allen Ebenen - politisch, sozial, kulturell... - von den wirtschaftlichen Eliten gewünscht werden, die an der Wall Street, in der City und in ihrer Umgebung dominieren. Die Genossen von Davos, sozusagen.
Modelle, darauf möchte ich hinweisen, die nicht die unseren sind. Aber auch nicht die der einfachen amerikanischen und britischen Bürger. Trotz aller historischen und kulturellen Unterschiede, die uns trennen.
Das hat jedoch nichts mit den Kategorien zu tun, die der Geopolitik eigen sind. Diese beruhen immer und ausschließlich auf der aussagekräftigsten Realität. Die der Geographie. Also der Natur.
Was ist also dieser kollektive Westen?
Eine Abstraktion, die eine ganze Menge beinhaltet, ja verbirgt. Vom finanziellen Turbokapitalismus, der vom Reichtum der Nationen abgekoppelt ist (und den Konzepten von Nationen und Völkern abgeneigt ist), bis zum ideologischen Malthusianismus, der die Weltbevölkerung dezimieren will. Von einer oligarchischen Vorstellung von Macht (getarnt als demokratische Dialektik) zur Woke-Kultur. Das heißt, zur Leugnung der Geschichte und der unterschiedlichen Geschichten.
Von einem menschenfeindlichen (und instrumentellen) Umweltschutz bis hin zu den sexuellen Vorlieben von Minderheiten, die zu neuen ethischen Modellen erhoben werden...
Immerhin Bagatellen. Die uns jedoch zur Schlachtbank führen.
In der Zwischenzeit reist Herr Milei nach Jerusalem nach Rom.
Zu Papst Franziskus.
Der Kaplan des neuen kollektiven Westens.
Übersetzung von Robert Steuckers