Das Gesetz der geopolitischen Subjektivität

21.10.2024

Eine aufmerksame Betrachtung der Karte von Halford Mackinder, auf die man sich bei der geopolitischen Analyse sowohl allgemeiner als auch spezifischer und lokaler theoretischer Fragen ständig beziehen sollte, ermöglicht es, die große Bedeutung der Figur des „Beobachters“ oder „Interpreten“ in der Geopolitik zu erkennen.

In der Relativitätstheorie, der Quantenmechanik, der strukturellen Linguistik und der modernen Logik ist die Bedeutung des Standorts des Subjekts in Bezug auf die untersuchten Prozesse entscheidend: Je nachdem, wo und wie sich der „Beobachter“ (der „Interpret“) befindet, verändern sich Qualität, Wesen und Inhalt der untersuchten Prozesse. Die unmittelbare Abhängigkeit des Ergebnisses von der Position des Subjekts wird in den modernen Wissenschaften - Natur- und Geisteswissenschaften - als ein zunehmend bedeutender Wert verstanden.

In der Geopolitik ist die Position des Subjekts im Allgemeinen das Hauptkriterium - insofern, als sich die geopolitischen Methoden, Prinzipien und Modelle selbst ändern, wenn sich das Subjekt von einem Segment der geopolitischen Weltkarte zu einem anderen bewegt.

Gleichzeitig bleibt die Landkarte selbst für alle Geopolitiken gleich, aber der Standort des „Beobachters“ bestimmt, mit welcher Art von Geopolitik wir es zu tun haben. Um diesen Unterschied zu betonen, sprechen wir manchmal von geopolitischen Schulen. Aber im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Schulen ist der Unterschied hier viel tiefer.

Jeder „Beobachter“ (d.h. jede „Schule“) in der Geopolitik sieht die allgemeine geopolitische Karte aus dem Blickwinkel der Zivilisation, in der er sich befindet. Daher spiegelt er in seiner Analyse nicht nur diese oder jene Richtung in der geopolitischen Wissenschaft wider, sondern die Haupteigenschaften seiner Zivilisation, ihre Werte, Präferenzen und strategischen Interessen, weitgehend unabhängig von der individuellen Position des Wissenschaftlers. In einer solchen Situation sollte man zwischen der Individualität eines Geopolitikers und seiner Subjektivität unterscheiden. Der Einfachheit halber kann diese Subjektivität als geopolitische Subjektivität bezeichnet werden.

Die geopolitische Subjektivität ist ein Faktor der obligatorischen Zugehörigkeit eines Geopolitikers (sowohl persönlich als auch aus der Sicht seiner Schule) zu jenem Segment der geopolitischen Landkarte, dem er durch natürliche Umstände der Geburt und Erziehung oder durch eine bewusste Willensentscheidung angehört. Diese Zugehörigkeit bedingt die gesamte Struktur des geopolitischen Wissens, mit der es sich auseinandersetzen muss. Die geopolitische Subjektivität bildet die zivile Identität des Wissenschaftlers selbst, ohne die die geopolitische Analyse steril wäre, da ihr ein Koordinatensystem fehlt.

Geopolitische Subjektivität ist kollektiv und nicht individuell. Ein geopolitischer Wissenschaftler bringt seine Individualität zum Ausdruck, indem er bestimmte Aspekte der wissenschaftlichen Methodik auf seine Weise interpretiert, indem er Analysen durchführt, Akzente setzt, Prioritäten hervorhebt oder Vorhersagen macht; aber die Zone der individuellen Freiheit der wissenschaftlichen Kreativität ist fest in den Rahmen der geopolitischen Subjektivität eingeschrieben, den der geopolitische Wissenschaftler nicht überschreiten kann, weil jenseits davon eine völlig andere Konfiguration des konzeptionellen Raums beginnt.

Natürlich kann das geopolitische Individuum ausnahmsweise seine Identität wechseln und zu einer anderen geopolitischen Subjektivität übergehen, aber dieser Vorgang ist ein Ausnahmefall radikaler sozialer Transgression wie der Wechsel des Geschlechts, der Muttersprache oder der Religionszugehörigkeit. Selbst wenn es zu einer solchen Überschreitung kommt, befindet sich die geopolitische Person nicht in einem individuellen Raum der Freiheit, sondern in einem neuen Rahmen, der durch die geopolitische Subjektivität, in die sie eingetreten ist, definiert wird.

Übersetzung von Robert Steuckers