Athen oder Jerusalem? Zu Lev Schestov. Kritische Apologie eines Umtriebigen

12.04.2023

Liebe Damen und Herren, es freut mich sehr, dass ich Sie alle heute zu meinen Zuhörern zählen darf. Ich möchte mich nicht lange mit einleitenden Worten aufhalten, sondern gleich zur Sache kommen: Der Titel des Buches von Lev Schestov, das heute Abend besprochen und dessen Inhalt vorgestellt werden soll, ist „Athen und Jerusalem“. Gleich im Voraus möchte ich anmerken, dass es sich dabei nicht um eine Gegenüberstellung der beiden tatsächlichen Städte, mitsamt ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung, handelt; Nein, es geht um ein Athen und ein Jerusalem im übertragenen, vergeistigten Sinne. Dieses Buch ist aber genauso wenig ein philosophiehistorisches Werk, wenn es auch manchmal diesen Anschein haben mag. Man fragt sich jetzt vielleicht: Was ist dieses Buch dann überhaupt? Und was hat das Buch dann mit einem solchen Titel zu schaffen? Ich möchte sie natürlich alle gerne in diese Fragen miteinbeziehen, möchte mich vielleicht möglichst verständlich machen; Aber bei diesem Vortrag geht es mir selbst, wie vielleicht auch Lev Schestov bei seinem Buch, weniger um das Verstehen, sondern zuerst einmal um das Empfinden, darum ein Gefühl für etwas zu bekommen.

Gehen wir also zuerst von einer Grundfrage unserer Zeit aus, und stellen wir diese dann auf den Kopf: „Ist es, im heutigen Zeitalter der Wissenschaften, da wir uns beinahe tagtäglich mit irgendwelchen sogenannten Gegebenheiten, Fakten und Erkenntnissen konfrontiert sehen, die die Maxime einer, mehrerer oder sogar aller  traditionellen Religionen ganz offensichtlich zu widerlegen meinen, überhaupt noch möglich, zu glauben?“ Und selbstverständlich geht es mir, wenn ich diese Frage in den Raum stelle, noch spezifischer um meine eigene Religion; Und, wenn ich so sagen darf, um die Religion von uns allen.

Bevor wir also beginnen uns dieser und anderen Fragen und Themen zu widmen, seien noch einige kurze, ganz rudimentäre Details zur Biographie Lev Schestovs an der Reihe. Lev Schestov wurde im Jahr 1866 in Kiev geboren, seine Familie bestand aus wohlhabenden Juden, der Vater war Inhaber eines Textilunternehmens. Lev hat Kiev schon in seiner Jugend verlassen müssen, da er dem Gymnasium aufgrund seiner politischen Überzeugungen verwiesen wurde; Er lebte hierauf in Moskau, wo er auch sein Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen hat.

Daraufhin ist er nach Kiev zurückgekehrt, wo er vor allem in seinem Elternhaus mit den verschiedensten Intellektuellen dieser Zeit in Kontakt kommen konnte. Seine Familie hat in Kiev regelmäßig literarische und künstlerische Salonabende abgehalten, das hat ihn in dieser Zeit wohl auch für den Rest seines Lebens geprägt. Später ist er wieder nach Russland gegangen und hat dort unter anderem Merezhkovskij, Rozanov, Berdjajev und Diaghilev kennengelernt; in diese Zeit fallen auch seine ersten philosophischen Publikationen, auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehen kann, und soweit ich weiß auch seine Konversion zum Christentum. Wir spulen jetzt quasi vor, nämlich zur großen Umbruchszeit in Russland, zur Februar- und Oktoberrevolution; Als Resultat letzterer hat Schestov mit seiner Familie nämlich sowohl Moskau als auch Kiev verlassen, ist dann in Deutschland und letztendlich in Frankreich untergekommen, wo er die verbleibenden Jahre seines Lebens verbracht hat. Auf diesen Reisen wurde er unter anderem mit Heidegger und Husserl persönlich bekannt, wie auch mit Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal. Seine Interessen waren immer sehr weitläufig, und er hat neben seinen philosophischen Tätigkeiten Gelegenheit gehabt an einigen der größten Universitäten Europas Vorträge zu halten. In den 1930ern war es dann schlussendlich, dass er sein Opus Magnum, Athen und Jerusalem, um das es heute gehen soll, abgefasst hat; Nicht lange nach dieser Publikation ist er, im Jahr 1938, einer rasch auftretenden Krankheit erlegen und am 20. November verstorben.

Wir sehen, dass Lev Schestov ein durchaus bewegtes Leben geführt hat, oder vielleicht zu leben gezwungen war; Und genauso bewegt war auch sein Denken. Ich habe ihn ja im Titel meines Vortrags auch als einen „Umtriebigen“ bezeichnet. Und trotz seiner Umtriebigkeit, trotz den geistigen Gradwanderungen und 90-Grad Wendungen, die er durchgemacht hat, trotz all dem oft Paradoxalen in seinen Werken; Es gibt eine Idee die sich durch seine frühesten Texte bis zu seinem letzten und größten Werk, Athen und Jerusalem, hindurchzieht: Die Freiheit.

Die Freiheit, in Ordnung, aber Freiheit wovon oder Freiheit wozu? Und wie verhält sich die Freiheit zum Glauben, der Schestov mindestens genauso wichtig war? Ich will es geradeheraus sagen: Für Lev Shestov IST der Glaube die Freiheit. Oder noch eher: Glaube und Freiheit sind zwei Gefühle, zwei Lebensgewissheiten, die ihm ein und dasselbe bedeuteten – Nämlich, dass nichts unmöglich ist. Nicht umsonst lesen wir in Matthäus 17,20: Denn wahrlich ich sage euch: So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so mögt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein. Und ebenso in Lukas 1,37: Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich.

Das beantwortet zwar die Frage „Freiheit wozu?“ aber beantwortet es auch die Frage: „Freiheit wovon?“ Und ist auf unserer Welt, war in den Tagen Jesu Christi, oder ist auch in unserer nüchternen Zeit, wirklich ALLES möglich? Oder gibt es doch noch manche Dinge die unmöglich bleiben? Hier kommt Athen ins Spiel; Genauer gesagt das, wofür Athen bei Schestov steht, also ein großer Teil der griechischen Philosophie, wie auch der späteren, die auf ihr aufbaut. Natürlich kann ich an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht auf alle Philosophen eingehen, die von Schestov mit der Tradition des athenischen Denkens in Verbindung gebracht werden. Aber dort wo Jerusalem in seinen Augen für den Glauben und für die Freiheit steht, hält Athen seinerseits andere Ideen entgegen und macht sich diese zu allgemeinen Prinzipien für die Philosophie: Die Vernunft beziehungswiese die Erkenntnis und die Notwendigkeit.

Athen stellt in den Raum, dass im Universum einige unumstößliche Gegebenheiten bestehen, an die nicht nur alle Menschen, sondern überhaupt alle Dinge, die existieren, sogar Gott, gebunden sind und auch gebunden bleiben. Solche Gegebenheiten wären zum Beispiel: 2 x 2 = 4, es kann keinen Berg ohne ein Tal geben, Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden. Solche Gegebenheiten wären weiters auch: Alles Lebendige untersteht der Notwendigkeit, es gibt nichts, wovon es kein Wissen geben kann, oder: „Alles Wirkliche ist vernünftig.“ Vor diesen Prinzipien gilt es sich nicht zu fürchten, sie nicht zu verwünschen, nicht über sie zu weinen. Es gilt sie hinzunehmen und anzunehmen, da sie ja in so überwältigender Weise offensichtlich und für jeden Menschen erkennbar sind; Man soll, nein, man muss sich sogar freuen angesichts dieser Erkenntnisse, die unumstößlich und ewig gültig sind; freuen darüber, dass man verstanden hat. Und wenn die Freude darüber einmal abgeklungen ist, kann man immer noch getrost und zufrieden sein, in der Gewissheit, dass diese Gegebenheiten, die Selbstevidenzen, sich niemals ändern werden und dass ihrer Notwendigkeit alles Lebendige untersteht.  

Aber: Untersteht ihnen wirkliches ALLES Lebendige? Wir geben ihnen, diesen natürlichsten, allgemeinsten, zwingendsten Tatsachen sehr viel Macht über uns, so scheint es Schestov. Nur über uns? Oder auch über ALLES andere? Und warum sollte es eigentlich so sein, und nicht anders? Man liest bei Thomas von Aquin, dem Vater der mittelalterlichen Scholastik, die Aristoteles so viel zu verdanken hatte, folgendes: „Es ist der Sinn der Wissenschaft, dass man von dem, was gewusst wird, glaubt, es könne sich unmöglich anders verhalten“; Und weiters: „Nur das wird von der Allmacht Gottes ausgeschlossen, was dem Wesen des Seins widerspricht, das heißt, daß etwas zugleich sei und nicht sei, und was von der gleichen Art ist: daß nicht gewesen sei, was gewesen ist; […] unter Gottes Allmacht fällt nicht, was einen Widerspruch enthält. Dessen allein ist Gott nicht mächtig, Geschehenes ungeschehen zu machen“.

Aus der Heiligen Schrift aber haben wir, im Evangelium nach Lukas 1,37, gehört: Denn bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und außerdem lesen und hören wir, in Matthäus 19,26: Jesus aber sah sie an und sprach zu ihnen: Bei den Menschen ist es unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Wie dürfen wir uns zu dieser Stelle verhalten, was sollen wir davon denken? Ich führe noch eine Stelle an, diesmal aus dem 1. Buch Mose 1,27, der Genesis: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn.

Was steht zwischen dem Evangelium nach Matthäus und dem 1. Buch Mose? Welches Ereignis ist am Menschen vor sich gegangen, dass er vom Bilde Gottes abgefallen ist? Was hat das überhaupt zu bedeuten - nach dem Bilde Gottes? Was ist mit Gott und dem Menschen passiert, seit der Schöpfung? Ich zitiere noch einmal die Genesis, und stelle gleichzeitig noch eine Frage: Wer hatte recht? Entweder Gott, als er sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. Oder die Schlange, als sie zu Eva gesagt hat: Ihr werdet mitnichten des Todes sterben; sondern Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon eßt, so werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.

Wer hatte recht? Wer hat bis heute recht? Athen oder Jerusalem? Für einen Großteil der Philosophen, die Schestov hier seiner Kritik unterzieht, wäre die Wahl sicherlich auf Athen gefallen. Und betrachten wir die Welt heute, aber auch schon seit der frühen Neuzeit, würden viele Menschen, gebildete Menschen, aber auch solche, welche sich gläubig nennen, sicherlich nicht anders urteilen. Schestov hat den Vorzug immer den einfachen Menschen, den Armen, den Obdach- und Heimatlosen, den Verzweifelten gegeben. Überhaupt bauen große Teile seines Denkens, besonders in seinem frühen Schaffen, auf der Idee der Verzweiflung auf. Gerade deshalb hat er die Vernunft mit ihrem „nicht lachen, nicht weinen noch verwünschen, sondern verstehen“, auch so sehr abgelehnt. Aber auch die Verzweiflung ist noch nicht die offenbarte Wahrheit des Evangeliums, die Wahrheit des lebendigen Gottes; Sie ist das „vorletzte Wort“, wie Schestov es genannt, das vorletzte Wort, das natürlich vor dem letzten Wort kommt: Dieses letzte Wort ist – der Glaube.

Um diesen Übergang von der Verzweiflung zum Glauben geht es Schestov ganz besonders, wenn er über zwei Personen schreibt, die in seinem Werk öfter auftreten: Das sind einerseits Hiob und andererseits der dänische Philosoph Sören Kierkegaard. Wer mit dem Buch Hiob oder auch mit den Werken Kierkegaards vertraut ist, wird wissen wie sehr beide die Verzweiflung angesichts des Irdischen, den Alptraum der Wirklichkeit gekannt haben. Und doch bleiben sie beide nicht bei ihrer Verzweiflung stehen. Sie exemplifizieren für Schestov ein Prinzip des Denkens, das beispielsweise der Scholastik des Anselm von Canterbury mit seinem „Credo ut intelligam“; zu Deutsch: „Ich glaube, auf dass ich verstehe.“, zuwiderläuft. Dem Credo ut intelligam halten Hiob, Kierkegaard und Schestov wiederum ihre eigene Formel entgegen, deren Ursprung bis heute nicht hinlänglich geklärt ist, die aber vermutlich, in abgewandelter Form, auf Tertullian zurückgeht. Es ist die Rede vom „Credo quia absurdum“ – Ich glaube, weil es unsinnig, weil es absurd ist. Das heißt auch: Ich glaube, entgegen der Vernunft, entgegen der Notwendigkeit. Ich glaube, aus der Verzweiflung heraus, und doch entgegen der Verzweiflung.

Wie hätte ein Hiob nicht verzweifeln sollen? Und trotzdem haben alle Reden, die gelehrten und weisen Worte seiner 3 Freunde, nicht vermocht, ihm das zurückzugeben, was er verloren hatte. Ja, nicht einmal die Verzweiflung haben sie ihm nehmen können; Und es war gut so. Ähnlich verhält es sich mit Kierkegaard, der sich sein Leben lang den Verlust, oder vielmehr den freiwilligen Verzicht auf seine Verlobte, nämlich zugunsten seines philosophischen Werkes, zum Vorwurf und zum Objekt seiner Verzweiflung gemacht hat. Die ganze Philosophie Hegels, welche ihm hinlänglich bekannt war, hat nicht vermocht, ihm irgendeinen Trost zu spenden; In seinem Werk „Die Wiederholung“, hat er das selbst auch recht genau ausgedrückt, und hat Hiob, dem „Privatdenker“, wie er ihn nennt, den Vorzug über Hegel gegeben. Und trotzdem: Kierkegaard hat an der Richtigkeit seiner Entscheidung Regine Olsen, das war seine Verlobte, aufzugeben, ein Leben lang festgehalten. Warum überhaupt? Warum musste er sie überhaupt aufgeben? Und noch viel mehr: Warum hat er nie von Gott verlangt, dass sie ihm zurückgegeben werde? Etwa nur, weil das einen Widerspruch enthalten hätte?

Bei Schestov steht: „Hiob verlangte, daß das Geschehene ungeschehen werde, daß die getöteten Kinder sich als nicht getötet, die verbrannte Habe sich als unverbrannt, die eingebüßte Gesundheit sich als nicht eingebüßt erwiesen, das heißt, er forderte das, was „nicht Gottes Allmacht untersteht, das, was selbst Gott nicht tun kann, weil es das „Gesetz“ des Widerspruchs, das „unerschütterlichste aller Prinzipien“, nicht zulassen würde. Gott aber gab dem Hiob seine Herden und seine Gesundheit und die getöteten Kinder zurück, er machte das Geschehene ungeschehen, ohne die Zustimmung irgend welcher Gesetze zu erfragen.“ Glauben, das heißt Freiheit, haben wir von Schestov gehört. Und Glauben heißt auch: Verlangen. Befehlen. Und sich nicht der Notwendigkeit, dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch zu beugen, sondern der Wirklichkeit den eigenen Willen aufzudrängen, sich nicht zu fügen, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz. Glauben, nicht nur obwohl, sondern gerade WEIL es absurd ist.

Schestov pfeift auf die Objektivität, auch wenn das bedeuten mag, dass ihm die Jünger der Notwendigkeit, mit ihren Selbstevidenzen und unabänderlichen Tatsachen, das Rückgrat brechen werden, ihn peitschen, schänden und kreuzigen werden, so wie sie es mit Christus getan haben. Die Vernunft zwingt immer, weil sie wahr ist, und wer sich nicht von ihr zwingen lässt, wer ihre Wahrheit nicht hinnimmt, der wird einen anderen Zwang erleiden, einen der sich nicht nur auf den Verstand erstreckt. „Vernunft ist Einsicht in die Notwendigkeit“, sagen die Anhänger Hegels. Und über aller Notwendigkeit, wenn ihr auch in mancher Hinsicht, und so selten Schestov das zugibt, einiges zugestanden werden kann, muss trotzdem die radikale Subjektivität des Menschen stehen, des Menschen VOR dem Sündenfall, welchen Gott „nach seinem Bilde“ geschaffen hat. Schöpferisch, befehlend, sich nicht beugend.

Und weil wir schon vom Kreuz Christi gesprochen haben, und weil ich heute, und eigentlich immer, meine Freunde werden das ja wissen, sehr gerne vorlese, habe ich noch, bevor wir weitergehen, zwei Textstellen vorbereitet. Einmal aus dem 1. Brief des Apostels Paulus an die Korinther 1, 18-25: Denn das Wort vom Kreuze ist den Verlorenen Torheit, uns Erlösten aber Gottes Kraft. Denn es steht geschrieben: Ich werde die Weisheit der Weisen verderben, und den Verstand der Verständigen vernichten. Wo bleiben die Weisen? Wo die Schriftgelehrten? Wo die Streitkünstler dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Nämlich: da unter der Weisheit Gottes die Welt Gott nicht erkannte durch die Weisheit, so beschloß Gott durch die Torheit der Verkündigung zu erretten die Glaubenden. Wie denn die Juden Zeichen fordern, Griechen auf Weisheit ausgehen, wir dagegen Christus am Kreuz verkünden, für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden und Griechen: Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte, das von Gott kommt, ist weiser als die Menschen, und das Schwache, das von Gott kommt, ist stärker als die Menschen. Und noch eine zweite, weitaus kürzere Stelle aus Tertullians De Carne Christi: „Gottes Sohn ist gekreuzigt worden: ich schäme mich dessen nicht, gerade weil es etwas Beschämendes ist. Gottes Sohn ist gestorben: es ist ganz glaubhaft, weil es ungereimt ist (und sich nicht begreifen lässt); er ist begraben und wieder auferstanden: das ist ganz sicher, weil es unmöglich ist.“

Es gäbe zu Schestovs Gedanken über den Apostel Paulus, Hiob oder Kierkegaard noch wesentlich mehr zu sagen. Ebenso zu Tertullian. Und auch zu zwei Denkern, die in christlich-konservativen Kreisen eher weniger hoch angesehen werden. Ich nenne Schestov hier einen Konservativen, weil er sowohl den rasenden Fortschritt des 19. Jahrhunderts als auch die gesamte Aufklärung, die Französische Revolution und die Oktoberrevolution in Russland vehement abgelehnt hat. Diese zwei Denker – es sind Martin Luther und Friedrich Nietzsche. Ich komme jetzt zum wohl schwierigsten Teil meines Vortrags. Wer mich kennt, wird wissen, dass ich mich oft und ziemlich ungehalten über Protestanten – wenn denn Luther so einer war – und Nihilisten – wenn denn Nietzsche so einer war – auslasse. Schestov bewunderte an Luther natürlich den rasenden Hass auf die herkömmliche Vernunft, wie auch seine Schmähreden gegen Aristoteles und Aquin. Aber er zitiert darüber hinaus mit Leidenschaft, und in seinem Buch auch immer wieder, folgende Stelle aus Luthers Kommentar zum Galaterbrief: „Alle Propheten sahen dies im Geiste, daß Christus sein wird der allergrößte Räuber, Dieb, Tempelschänder, Mörder, Ehebrecher usw., wie es nie einen größeren in der Welt gegeben hat. Gott hat seinen einziggeborenen Sohn in die Welt gesandt und hat auf ihn alle Sünden aller Menschen geladen, indem er sagt: Sei du Petrus, jener Verleugner, Paulus, jener Verfolger, Gotteslästerer und Gewalttäter, David, jener Ehebrecher, jener Sünder, der den Apfel im Paradiese aß, jener Schächer am Kreuze, alles in allem, du sollst sein die Person, welche die Sünden aller Menschen begangen hat.“

Gott hat IN SEINEM SOHN Jesus Christus, alle Sünden der Welt auf sich genommen, gleichsam noch einmal begangen, und vergeben, ausgetilgt, weil in Ihm und durch Ihn und mit Ihm kein Ding unmöglich ist; so Luther, so mit ihm Lev Schestov. Die Botschaft Christi ist die, die uns von der Erbsünde, der Sünde der Erkenntnis von Gut und Böse, befreien soll. Und noch viel mehr: Die Erkenntnis, die die erste Sünde und die Grundlage für alle weiteren Sünden ist – sie IST das Böse. Mit der Erkenntnis kam das Böse in die Welt. Darauf versteift sich Schestov. Ich komme darauf am Ende meines Vortrages noch einmal zurück. Aber es wird jetzt vielleicht auch Schestovs Faszination mit Nietzsche etwas klarer, mit dessen „Jenseits von Gut und Böse“, wie auch mit der befehlenden Herrenmoral Jerusalems und der ihr gegenüberstehenden, zwingenden, sich selbst zwingenden und sich selbst zwingen lassenden Sklavenmoral Athens. Wohl angemerkt: Schestov hegt trotzdem einige Vorbehalte gegenüber Nietzsche, nämlich gegen dessen Atheismus, wie auch gegenüber seiner Rückwendung hin zur athenischen Notwendigkeit in seinem Spätwerk. Ich kann hierauf aus Zeitgründen leider nicht mehr eingehen, vielleicht wird es in der Diskussion im Anschluss Platz dafür geben.

Was aber nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde. So lesen wir im Römerbrief 14,23. Der Mensch aber wollte nicht nur glauben, er wollte wissen. Die Vernunft hat ihn bezaubert, mit ihren allgemeinen Gegebenheiten, welche sie verabsolutiert, und somit in den Stand von ewigen, immer gültigen Wahrheiten erhoben hat. Für Schestov ist das die große, seit Urzeiten andauernde Tragödie der Menschheit. Aber die ewigen Wahrheiten sind, obwohl das vielleicht paradox erscheinen mag, nicht zwingend. Und das hat nichts mit Nihilismus oder gar Skeptizismus zu tun, auch wenn einer wie Schestov sich oftmals so skeptisch gegenüber dem zeigt, was uns von der Philosophie, der Erkenntnistheorie und der Notwendigkeitslehre, als ewige Wahrheit hingehalten wird. Nein, diese ewigen Wahrheiten, das sind Mauern, zumindest für den Gläubigen de profundis, der seine gewalttätigen, herrischen Worte den Steinen und Dünen in der Wüste predigt. Ein weiterer solcher Denker aus der Tiefe, ein Rufender in der Wüste, ein um jeden Preis Gläubiger, war Dostojewskij.

Lev Schestov hat das nicht anders gesehen; Denn Dostojewskij ist auch einer der ganz wenigen, gegenüber denen er keine Vorbehalte hat. Für Dostojewskij war die ewige Wahrheit von 2 x 2 = 4, war die Vernunft, die, wie wir gehört haben, die Einsicht in die Notwendigkeit ist, nichts anderes als eine der soeben erwähnten Mauern; Dieses Bild, also das der Eingeschlossenheit, stammt auch von ihm selbst. Er muss sich angesichts dessen, als er in sibirischer Gefangenschaft das Evangelium las, erneut wie ein Verbrecher gefühlt haben, und wie hätte es auch anders sein können; Für ihn, der sich angesichts dieser Mauern der Selbstevidenzen, die er auf keinen Fall mehr respektieren, unter keinen Umständen mehr gelten lassen wollte und konnte, muss die Lektüre der Heiligen Schrift geradezu ein Ausbruch aus dem Gefängnis gewesen sein. Die physischen Mauern des „Totenhauses“, von denen er schreibt, waren ihm Läuterung; Nicht umsonst hat er später für seinen Raskolnikov das gleiche Schicksal vorgesehen. Was ihn aber im Innersten, in der Seele eingeschlossen hat, und wovon er sich wünschte am Allermeisten auszubrechen – das war das 2 x 2 = 4. Natürlich schreibt auch Lev Schestov darüber, aber wer sich für diesen Aspekt des Lebens und des Schaffens Dostojewskijs interessiert, und sich Athen und Jerusalem nicht „antun“ möchte, dem kann ich László Földényis Buch mit dem schönen Titel „Dostojewskij liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus“, das von einem sehr ähnlichen Thema handelt, nur ans Herz legen. 

Wenn es stimmt, was der Apostel Paulus schreibt, dass es nämlich nicht die Gesetze der Welt sind, und seien es auch das Gesetz des Widerspruchs oder des zureichenden Grundes, die den Menschen selig machen, sondern der Glaube allein; Dann ist Dostojewskij hierfür wohl eines der besten Beispiele. Diejenigen Wahrheiten, die nämlich wirklich ewig sind, die keinen Beweis brauchen und denen der Beweis sogar schädlich wäre, sie werden nicht erkannt, sie brauchen auch gar nicht erkannt zu werden, sondern sie sind offenbart. Indem sie offenbart sind, sind sie auf ewig lebendig. Schestov schreibt einmal, dass wenn es einen wissenschaftlichen Beweis für die Existenz Gottes geben könnte oder würde, man diesen Beweise vernichten sollte. Gott ist immer in der Wahrheit, IST die Wahrheit, und hat kein Bedürfnis danach bewiesen zu werden; Weder von der Logik, der Ontologie oder der Geschichte, noch von der Physik, noch von sonst jemandem oder etwas.

Und das ist es auch, was Gott für den Menschen bedeutet: Nämlich, dass er keine Beweise, keine Vernunftwahrheiten braucht, viel mehr braucht er die Torheit, die Idiotie eines Dostojewskijs, der nicht annehmen wollte dass 2 x 2 = 4 ist, oder er braucht die Vermessenheit eines Pascals, der sich erdreistet hat zu behaupten, das Höchste des Wissens sei die Einsicht, dass alles Wissen nutzlos sei. Nicht fürchten! – auch davon steht viel in „Athen und Jerusalem“, vielleicht ist es sogar eine der Grundaussagen dieses Werks. Wer nämlich Glauben hat wie ein Senfkorn, für den wird es keinen Verlust geben, so wie es ihn für Hiob oder Abraham nicht gegeben hat: „Der Glaube bedeutet, dass Gott Abraham einen neuen Sohn geben, den geopferten Isaak wieder ins Leben rufen konnte, dass er die Hölle zwingen kann, ihrem Gesetz untreu zu werden.“, so schreibt Schestov zur Bindung Isaaks, zur Prüfung Abrahams. Und noch einmal aus dem 1. Korintherbrief: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Aber der Stachel des Todes ist die Sünde; die Kraft aber der Sünde ist das Gesetz.

Ich komme langsam zum Ende meines Vortrags, aber vergegenwärtigen wir uns das noch einmal: Die Sünde erhält ihre Kraft durch das Gesetz, und die Sünde ist der Tod. Und vergegenwärtigen wir uns auch noch einmal die Worte Gottes, angesichts des Baumes der Erkenntnis: … denn welches Tages du davon ißt, wirst du des Todes sterben. Gesetz und Erkenntnis – hierin sieht die Bibel das Gegenteil von Leben und Freiheit, was den Tod bedeutet. Und doch ist der Stachel des Todes nur Lüge, ist nicht die immer lebendige Wahrheit des Glaubens, das Geheimnis des Glaubens. Dass die Vernunft, die Synthese von Gesetz und Erkenntnis, also in Wahrheit Sünde und Lüge sei – das ist wohl das größte Verbrechen, dass am Vermächtnis des Denkens von Athen begangen werden kann.

Ich glaube es wird, in Anbetracht des Gesagten, nicht kitschig und abgeschmackt, vielleicht aber gänzlich verrückt erscheinen, wenn ich meinen Vortrag mit einem Aufruf zu Ende bringe; Im Übrigen kann und möchte ich gar nicht anders. Ich rufe, mit Lev Schestov, auf sich nicht zu fürchten, sondern zu lachen, zu weinen und zu verwünschen, in Freiheit von dem Bedürfnis nur zu verstehen. Es geschehe nach eurem Glauben, und euch sei nichts unmöglich. 

Und rufen wir uns in Erinnerung, was im 1. Buch Mose, der Genesis, im 1. Kapitel und in dem 31. Vers geschrieben steht – Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.